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Re: C@are Child (fwd)



Moin,

Gewidmet Holger Veit, der sich einige Beitraege zuvor nicht scheute,
die Soziologie als Laberwissenschaft zu bezeichnen.

Wau Holland schreibt:
>> Hinzu kommt das Problem des Netz-Ueberlebenswillens:
>> Weil die Netze eine Zensur als Existenzbedrohung empfindet,
>> kopiert sie zu zensierende Infos einfach oft genug; das ist eine
>> Art niederer Instinkt der Netze als Bio-Roboter.

Holger Veit schreibt:
>Das sollten wir in einen anderen Thread ziehen. Die Frage, ob das
>InTerraNet tatsaechlich bereits eine Lebensform konstituiert. Was Du 
>als niederen Instinkt des Netzes selbst bezeichnest, ist IMHO mehr
>eine inhaerent vorhandene Funktion des Betriebssystems Node-Administrator,
>welche so haeufig implementiert ist, dass sie als generelle Eigenschaft
>nicht der Zellen erscheint, sondern des Netzes selbst. Moeglicherweise
>ist sie das auch, vergleichbar mit der Generalisierung des Beduerfnisses
>eines Organismus zu atmen, zurueckgefuehrt auf den biologischen Mechanismus
>der Zellen, Sauerstoff aufzunehmen oder abzugeben. Vielleicht aber auch
>ist die Ablehnung von Zensur eine Manifestation eines uebergeordneten
>Prinzips eines Lebewesens, zu wachsen, sich zu entwickeln, sich auszubreiten
>und zu veraendern - wodurch ein Zensor, der einen bestimmten Zustand konser-
>vieren will, automatisch als Fremdkoerper, als Krankheitserreger eingestuft
>wird.
>Finde ich hochinteressant, aber da muessen wir noch ein paar Diskussions-
>iterationen spendieren.

Spaetestens seit der letzten Jahrhundertwende empfiehlt sich die
Unterscheidung in drei nicht aufeinander reduzierbare Welten: Natur,
Ich, Gesellschaft (und im Zentrum steht konventionell die alles mit
allem vermittelnde Superkategorie: Praxis (Untermenge: Arbeit,
Untermenge: industrielle Arbeit). Bitte einmal durchdeklinieren).
Dadrunter ist nicht. Bei Popper heisst es bspw. explizit
"3-Welten-Theorie", wobei der Gute "Gesellschaft" als "Geschichte"
ausweist. Eure Formulierungen offenbaren, dass ihr keine Vorstellung
von Gesellschaft als einer "Realitaet sui generis" habt, sondern
diese auf die anderen beiden Groessen versucht abzubilden: Das Netz
als Lebewesen (wenn energetischer Fokus) oder als reflexives Subjekt
(wenn kognitiver Fokus).

Das Internet ist ein _Sozialsystem_ - also: weder ein Subjekt noch eine
biologische Lebensform - das sich tatsaechlich zu einem guten Anteil 
autonom differenziert. Eine solche Theorie in einem ersten bescheidenen 
Ansatz zu formulieren habe ich versucht in: 
Rost, Martin, 1997: Anmerkungen zu einer Soziologie des
Internet; in: Gräf, Lorenz/ Krajewski, Markus (Hrsg.), 1997:
Soziologie des Internet. Handeln im elektronischen Web-Werk,
Frankfurt am Main: Campus
Text: http://www.netuse.de/~maro/mr_sdi.html

Hiernach waere bspw. die Ablehnung von Zensur keine 
>Manifestation eines uebergeordneten
>Prinzips eines Lebewesens, zu wachsen, sich zu entwickeln, sich auszubreiten
>und zu veraendern, wodurch ein Zensor, der einen bestimmten Zustand konser-
>vieren will, automatisch als Fremdkoerper, als Krankheitserreger eingestuft
>wird.
(BTW: Huebsch, wie Du mit einer betoerenden Konsequenz umstandslos in
die typische Differenz gesund/krank hineingeraetst, unter der die 
Diskussionen des 19. Jahrhunderts gefuehrt wurden. Abweichung war damals 
gleichbedeutend mit krank, heute gilt die Abweichung DER Strukturbildner 
unter order-from-noise-Bedingungen.)
Stattdessen ist Zensur eine politische Steuerungsgroesse in der
Umwelt des Systems Internet (das sich anhand von Protokollen
ausdifferenziert), die als Stoergroesse beobachtet wird. Schwierigkeiten, 
die man bei dem Versuch der Abbildung von Zensur in einem
grosstechnischen Medium feststellt, stellen sich ein, wenn Strukturen
des einen Bereichs (Politik) in einem anderen Bereich (Internet) 1:1,
also ohne systemangepasste Transformation, abgebildet werden sollen. 
An der Unbeirrbarkeit beim Anspruch auf triviale Abbildung von einer
Struktur in der anderen bemisst sich der Grad des politischen
Konservatismus. Und zugleich ist diese Stoerung "Zensur" Anlass zur 
Fortsetzung der Differenzierung des Systems Internet gemaess den
systemeigenen Strukturen. (Gleiches gilt fuer die "Stoerung" Geld,
die die systemeigenen Differenzierungsformen anstoesst, ergo: Die
Evolution weiterer Protokolle zur Folge hat...)

Der Einstieg in das Verstaendnis von Gesellschaft als einer
Strukturierungsinstanz eigener Art gelingt bereits mit der
Beobachtung nur der eigenen Zweierbeziehung, die sich genau nicht so
entwickelt, wie es sich die beiden Beteiligten je fuer sich
vorstellen. Die Beziehung an-sich, genauer: Die Form der
Kommunikation, führt zu Strukturen, die nicht auf ein Ich oder den
Koerper zurueckgerechnet werden koennen. (Die Analogisierung sozialer
Prozesse gemaess biologischer Prozesse ist das Programm der
Sozialphilosophie des 19. Jahrhunderts (als man bspw. die Zirkulation
des Geldes gemaess des Blutkreislaufs begriff oder Strassen als
Nervenstraenge). Deswegen ist Waus Spekulation wenig originell.))
Oder man denke an das Sozialverhaeltnis: Onkel. Ein Onkel ist keine
mentale Groesse, sie ist keine Eigenschaft des Bewusstseins, des
Denkens, sondern ein Verhaeltnis, das von Aussen dem Bruder von Vater
oder Mutter objektiv aufgedraengt wird. Onkel ist ebenso wenig eine
physikalische Eigenschaft. Trotzdem ist ein Onkel ein Strukturbildner
ganz eigener Art (ersetze Onkel durch Freund, Chef, Moerder...).

Gruss, Martin