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Re: C@are Child (fwd)



Holger schrieb:

> Das Nette an der Philosophie ist, dass sie so viele schoene Denkmodelle
> zur Verfuegung stellt, aus denen man sich eines raussuchen kann, ohne
> dass die Philosophie jemals eine allgemeingueltige Aussage machen muss.
> Damit nehme ich zunaechst mal zur Kenntnis, was Popper sagt, aber sehe
> mich keineswegs veranlasst, ihn als alleingueltiges Credo zu akzeptieren.

Ich habe Popper nur deshalb angefuehrt, weil man ihn als Methodiker
auch in den Naturwissenschaften kennen kann, insbesondere wenn man
Fehlerstatistiken anzufertigen hat, weil man um probabalistische/
stochastische Aussageformen nicht herumkommt.

> > Das Internet ist ein _Sozialsystem_ - also: weder ein Subjekt noch eine
> > biologische Lebensform - das sich tatsaechlich zu einem guten Anteil 
> > autonom differenziert. Eine solche Theorie in einem ersten bescheidenen 
> 
> Nun gut. These: Der menschliche Koerper ist ein Sozialsystem von einer 
> ...
> ins Blaue spekulieren, was der Grund ihrer Existenz ist).

Es ist unbestreitbar, dass das Teil nicht das Ganze angemessen
wahrnehmen kann und deshalb mit Vereinfachungen klarkommen muss. 
Dazu unten in Waus Part mehr.

> Du argumentierst hier mit einem "Innen" und "Aussen", hier Umwelt, da
> Internet, welche sich notwendigerweise aufeinander abbilden lassen 
> muessten. Dass der Versuch unternommen wird, eine 1:1 Abbildung vorzunehmen,
> was mangels Bijektivitaet nicht funktioniert, darueber besteht kein Zweifel,
> und ist sicherlich auch ein, wenn nicht sogar *der* Grund fuer die Reibereien
> um Zensur oder nicht-Zensur. Diese Argumentation und der Abbildungsversuch
> setzen jedoch bereits die stillschweigende Annahme voraus, dass es sich
> bei beiden Objekten, der Umwelt und dem Internet, um gleichartige Objekt-
> klassen handelt, naemlich der Klasse "Sozialsystem" zugehoerig. Diese
> Voraussetzung ziehe ich zunaechst mal in Zweifel, selbst wenn sie nach 

Nein, diese Voraussetzung muss so nicht gemacht werden. Soziale
Systeme muessen auch mit Stoerungen von "Menschen" und von "Natur"
klarkommen, obwohl sie anderen Objektklassen angehoeren. Das ist
gerade eine besondere Staerke des Stoerungskonzepts. Als Preis fuer
diese Vereinfachung ist gefordert, dass ein System andere Systeme in
der Umwelt beobachtet - und dann notwendig immer gemaess der eigenen
Struktur rekonstruiert und auf diese Weise eine systemeigene
Blindheit im Beobachten herstellt.

Ich muesste mehr ausholen, aber ich werde stattdessen gleich unten
einen Hinweis auf einen knappen und gut lesbaren Text als Einfuehrung 
in moderne Systemtheorie geben.

Wau schrieb:
> maro:
> (...)
> >Das Internet ist ein _Sozialsystem_ - also: weder ein Subjekt noch eine
> 
> ersetze "ist" durch "kann betrachtet werden als".

Stimmt, "ist" ist bei Anspruechen an eine reflektierte
Begrifflichkeit falsch und deshalb zu ersetzen. "kann betrachtet
werden" vermeidet diesen Ontologisierungs-Fehler, ist mir dagegen zu
defensiv, zu hasenfuessig. Angemessen waere: "operiert als".

> (...) (BTW: Huebsch, wie Du mit einer betoerenden Konsequenz
> >umstandslos in die typische Differenz gesund/krank hineingeraetst,
> >unter der die Diskussionen des 19. Jahrhunderts gefuehrt wurden.
> >Abweichung war damals gleichbedeutend mit krank, heute gilt die
> >Abweichung DER Strukturbildner unter
> >order-from-noise-Bedingungen.)
> 
> Huebsch, wie betoerend typisch Du vereinfachst.

Das "huebsch" haette ich mir sparen koennen... Es wirkt jetzt
herablassend auf mich, obwohl es vermutlich nicht mehr als ein
Ausdruck meiner Freude sein sollte, dass jemand immerhin so
konsequent ist, dass er sich gleich selbst das klassische Bein 
stellt.

> Ich habe die Texte um das Sozialistische Patientenkollektiv
> "damals" genau gelesen. Ich bin froh, dass unsere Gesellschaft in
> den letzten 25 Jahren beim Krankheitsbegriff einige Uebel
> abgestreift hat, gegen die Huber und Co ankaempften.
> 
> Nicht zuletzt deshalb stand ich dem Begriff des "Stoerers"
> aufgeschlossen gegenueber - im Geleitwort zur Hackerbibel war der
> "Stoerer" fuer mich das positive Bild, das die Halbleitereffekte
> ueberhaupt ermoeglicht ;-)

Stoerung ist einer DER Kernbegriffe moderner Systemtheorie. Klassisch
systematische Theoriebildung unterscheidet "Elemente" und
"Relationen" (zw. den Elementen), wobei der Eigencharakter der
Elemente von dem Moment an verschwindet, in dem Elemente als
Relationen der Relationen ausgewiesen werden. Mathematiker darf man
nicht fragen, was eine Zahl "ist": Menge oder Laenge oder was? Und
verweigern die Antwort, weil mathematisch belanglos. Eben. Dafuer
sind sie bei den Relationen stark. Oder Linguisten: Wie entsteht
Bedeutung? Antwort: Durch die Konstellation (= Relation) von Worten
(= Elemente, ihrerseits Konstellationen von Morphemen usw.). Die
Dialektik ist die dafuer angemessene Theorieform. Die Systemtheorie
(Bielefelder Schule) dreht dieses Verhaeltnis nun um: Nicht die
Relationen ersticken laenger die Elemente, vielmehr operieren die
Elemente spezifisch, sie reproduzieren sich als verkettete Ereignisse
und konstitutieren dadurch Systeme, die wiederum die Verkettung der
Ereignisse leiten (unumgehbar zirkulaere Definition). Es gilt nun,
die spezifische Funktionsweise von Systemen zu studieren, die stabil
ihre System-Umwelt-Differenz aufrechterhalten. Dafuer sind die
Relationen, in denen Systeme stehen und die man als Beobachter
unterstellt, entwertet, indem sie zu "Stoerungen" degradiert werden.

Bitte lesen: 
Luhmann, Niklas, 1988: Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie;
in: Merkur, April 1988.
(Wenn mir mein Win95-Rechner, an dem der Scanner haengt, nicht gerade
gestern Abend abgepfiffen waere und weil ich im Moment einfach keine
Lust habe, zwei Tage meines Lebens in dessen Wiederaufbau zu
stecken, wuerde ich das Teil einscannen und ins Web stellen. Sonst
liest diesen knappen Text - im konzeptionell-programmatischen Gehalt 
vergleichbar den Feuerbachthesen - ja eh keiner.)

> Ich bemuehe mich, meine Irrtuemer zu reflektieren. Genau deshalb
> geht mir zB linke Geschichtslosigkeit des CL mit der Angst vor
> deren eigenen Postings auf den Keks. Ich moechte meine Irrtuemer
> von vor 12 oder mehr Jahren nachlesen koennen und habe keine Angst
> davor, dass das andere auch koennten - im Gegenteil: ich glaube
> daran, dass sich aus Fehlern lernen laesst. Nicht immer, aber doch.

Irrtuemer sind selbstproduzierte Dotierungen. Ohne das Risiko der
Selbststoerung (deshalb ist in Entwicklungslabors das Spielen
(Symbol: Turnschuh und keine Krawatte), bei dem man Fehler inkauf
nimmt, so wichtig und das erfolgreiche Abarbeiten durchaus
gefaehrlich) stellt sich keine Differenzierung ein. Beobachten laesst
sich das im Nachhinein, da schuetzt auch keine noch so gute Theorie.
Bei meinem derzeitigen Programmierprojekt fragten wir uns zu
Projektbeginn: C oder Java? Abgesehen von allen technischen und
strategischen Erwaegungen war ich fuer C, weil wir das schliesslich
kannten und uns risikomindernd das Projekt von dieser Seite her nicht
abpfeift; die anderen waren risikomindernd fuer Java, weil wir es
kennenlernen sollten, damit uns das Projekt nicht abpfeift. Sie
hatten Recht: Die Motivation, eine neue Programmiersprache zu lernen,
hilft ueber etwaig fehlende Motivation bei Projektproblemen hinweg.
Ist n mitkoppelnder Prozess, sozusagen ein kognitives Perpetuum
Mobile. 

> Triviale Abbildungen sind hilfreich und wichtig. An der Stelle
> gehen mir gewisse Soziologen auf den Keks, die wortgewaltig Nichts
> sagen und meinen, damit sei Alles gesagt.

Das ist eine populistische Watsche. Ich gestehe zu, dass sich die
konventionelle Soziologie ueberwiegend in einem jaemmerlichen Zustand
befindet. Und ihre Reputation ist ausnehmend beschissen - da nuetzen
alle erfolgreichen Wahlprognosen rein gar nichts. Wenn ein Betrieb
nicht mehr weiterweiss, wird ganz zum Schluss vielleicht auch noch
mal n Soziologe rangelassen, ist ja eh egal, aber sicher erst nachdem
zuvor die Narren ("Kuenstler") ihre Chance erhielten. Dies liegt mit
an dem "Erfolg" der 68er, denen bis heute gute Moral vielfach noch
immer Theorie ersetzt und die weder die "Dialektik der Aufklaerung"
noch die "negative Dialektik" ernstgenommen haben. Im Ergebnis wird
seitdem Soziologie entweder mit Marxismus (igitt) oder
Sozialpaedagogik (Weicheier) - oder nicht minder verheerend - mit
Psychologie (dann nimmt man doch gleich einen, der sich auch so
nennt) verwechselt.

> Wer nicht weiter weiss als "wir wissen, dass wir nichts wissen",
> ist IMHO eine Wuestenameise de Luxe.

Ja. Sie koennen wissen, wie sie das Aufloesungsniveau zu trimmen
haben, um ihr Wissen zu praesentieren. 

> "In Wirklichkeit muss das alles ganz einfach sein" sage ich mir
> jedesmal, wenn ich irgendein Geraet zerlege, "denn es wird ja in
> Gross-Serie hergestellt".

Schoen. Stimmt. Gelernt.

> So gehe ich auch an die Gesellschaft heran. Die Frechheit bei der
> Vereinfachung ersetzt nicht die Muehen bei den Details. Da kann man
> daneben liegen.

Die Frage ist, welche Auffangkomplexitaet fuer die Vereinfachungen
man danebensetzt. Und man kann es sich soziologisch nicht so einfach
machen wie in vielen anderen Wissenschaften: Reibung wird
vernachlaessigt; eine Kerze brennt, weil die im Wachs
eingeschlossenen Gase aufsteigen; rationale Entscheidungen als Basis
fuer Erklaerung von Marktgeschehen. Schon bei 4 Massenpunkten faengt
ein physikalischer Theorieapparat zu rotieren an.... Gesellschaft als
"Superstruktur" operiert zwar teilautonom, doch gibt es in ihrer
signifikanten Umwelt Stoerungen durch mehrere Milliarden "Aerscher
mit Ohren", also selbstreflexive Systeme, die je fuer sich
unberechenbar sind. Man hatte es soziologisch von Anfang an nicht mit
Wirkungen, sondern mit "Wechselwirkungen" zu tun. Und heute eben mit
autopoietischen, nicht-trivialen Systemen. 
 
> Auf soziologische Tiefschuerfungen murxistischer
> Theorie-Kleinkraemer die - eine Fusselnote der Geschichte - um 1972
> darueber stritten, ob Kaufhausangestellte, die "nur" in der
> Distribution arbeiten, zum Proletariat gehoeren oder nicht, habe
> ich mich jedoch schon damals nicht allzu lange eingelassen.

Das war ja auch Scheisse. Solange "Dialektiker" einen
Absolutheitsanspruch erheben und sich auf der Seite der Guten
waehnen, so lange betreiben sie strukturell Theologie.

> Im Unterschied zu irgendwelchen Wiesenschaftlern ist mein Begehr
> nicht die blaue Blume der Originalitaet, sondern Wissbegier und
> Freude am Begreifen. Das ist ein kollektiver Akt und Dein
> Eingreifen ist da nett - danke.

Ich wollte mit diesem provokanten Eingriff nicht in die Phalanx der
Alphamaennchen dieser Liste einbrechen, sondern dafuer werben, dass
der Gedanke, der Dich und Holger packte, durchaus entwicklungsfaehig
sei. Nur muss fuer dessen Entwicklung eine weitere Dimension
eingezogen werden, um nicht die konzeptionellen Irrtuemer der
Pioniere ("Sozialitaet als Lebewesen") zu wiederholen. Mir liegt
hoechst egoistisch daran, Mitglieder dieser List in einem kleinen
Ausschnitt noch einen Tick schlauer zu machen, weil sich dann die
Chance verbessert, noch mehr als bisher schon von ihnen lernen zu
koennen.

> Es gibt eine "kritische Masse" von Neuronen, die faehig sind, Geist
> zu schaffen durch die formatierte Verschaltung mit Wegen, die sich
> aus und zu Erfahrung bahnten. Es mag sein, dass dies in der
> Groessenordnung Wuestenameise liegt; davon gehe ich derzeit aus.

Du ruehrst hier grosszuegigst zusammen (Masse: Quant, Neuron: Gen,
formatierte Verschaltung: Bit, Geist/ Erfahrung: Deut), was es erst
einmal auseinanderzuziehen und je fuer sich zu klaeren gilt. Und dann
kann man sich um die Transformationsregeln kuemmern ("kritische
Masse" (Referenz: Quant) als Metapher fuer Qualitaetsumschlag 
erzeugt fuer andere Systeme eine falsche Klarheit). Man erinnere sich
hier an die analytischen Wonnen, als man das erste Mal zumindest den
Sinn von 7-Schicht-OSI begriff...

Gruss, Martin