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Re: Die Einsamkeit des Surfers vor dem Bildschirm



Wau:
[...]
> Der Betreff ist einfach Unfug.
Oui.

> Computer sind Strukturverstaerker:

Sie verstaerken bereits vorhandene Strukturen, ja. 
> wer zur Kommunikation unfaehig ist, lernt das auch nicht mit
> einer Glasscheibe vor der Nase und einem Draht in der Wand.

Aber: wo kommen solche Strukturen her? Es ist IMHO zu einfach, da
zu sagen, dass etwa passive Konsummedien wie TV oder Radio daran
Schuld sind. Auch die verstaerken vorhandene Tendenzen. Irgendwann
muss doch eigentlich das traute abendliche Monopoly-Spiel in der
Familie (oder auch Mensch-Aergere-Dich-Nicht) verringerten
gesellschaftlichen Kontakten gewichen sein. Computer wirken, das
ist m.A. der Tenor der Studie, nicht (nur) als Verstaerker, sondern
als Ausloeser von Kontaktarmut. Nach dem ersten groben Lesen der Studie
faellt mir auf, dass die Autoren gar nicht in Zweifel ziehen, dass sich im 
IRC oder per E-Mail *neue* Kontakte ergeben koennen und auch ergeben 
(rechnet man einmal den Neuheitswert von E-Mail als eine Art "Offline-
Telefon" mit Nachbarn oder Verwandten heraus). Die Studie wertet allerdings 
direkt solche Kontakte dadurch ab, was IMHO unbewiesen ist, dass solche 
Kontakte - im Gegensatz zu anderen Kontakten - nicht die Qualitaet, 
Unmittelbarkeit und Staerke eines face-to-face-Kontakts haben, sondern 
wie ein Fernseher durch Knopfdruck abgeschaltet werden koennen
(in die gleicher Kerbe hat ja auch schon vor geraumer Zeit Clifford Stoll
mit Silicon Snake Oil gehauen). Ich ziehe dies insbesondere im Hinblick
auf den gesellschaftlichen Kontext USA in Zweifel; fuer meine Begriffe ist
dort die ganze Gesellschaft, im Vergleich zu europaeischen Gruppen, ziemlich
unverbindlich und oberflaechlich.

Trotzdem ist durchaus etwas Wahres dran - Stichwort *Plonk* - an dieser Stelle
fehlt mir in der Studie allerdings eine Art Doppelblindversuch, und das 
gleich in mehrfacher Hinsicht:

Ich beobachte derzeit belustigt die Aktionen zum Vertreiben von Dummschwaetzern
und Me-Too-Hack-DAUs und frage mich, wie ich im RL mit Leuten umgehe, die
mir so penetrant auf den Keks gehen: ich wuerde sie entweder ein fuer alle
Male fuerchterlich anranzen, um sie abzuschrecken, oder ihnen selbst aus 
dem Wege gehen. Der gleiche Mechanismus findet im Usenet statt, allerdings
in einem wesentlich groesseren und heterogenerem Rahmen. Der Studie fehlt
quasi die Vergleichsgruppe der Nicht-PC-User und ihr Umgang mit einer
vergleichbaren Kategorie von Kommunikationskonflikten. Eine solche 
Spiegelgruppe, und noch eher die entsprechende Mischung von potentiellen
Komm-Partnern, ist freilich im RL sehr schwer zu finden - die natuerliche
Separation von Gruppen und Gesellschaftsschichten im RL macht jedes
derartige Experiment recht kuenstlich - wohingegen sich im Usenet alle
Berufsgruppen, Schichten, Konfessionen, Meinungsinhaber etc. froehlich
ueber Gott und die Welt unterhalten und streiten. Das ist fuer Neulinge
im Netz mitunter eine so schockierende neue Erfahrung, die zu verarbeiten
manche Leute Jahre benoetigen und manche andere gar nicht bewaeltigen.
Wau, Du erwaehntest einmal treffend: "es lebt". In gewisser Weise ist das
Netz dieses: lebendig. Auf eine andere Art als das RL. Diesen veraenderten
Kommunikationsparadigmen traegt die Studie nicht Rechnung, wenn sie beide
Systeme in einem Topf verruehren will und Abnahme von angeblich typischen 
engen bis intimen Sozialkontakten hie mit oberflaechlichen Kontakten dort 
verrechnen will. Ich habe auch im RL einen Haufen "Bekannte", mit denen 
ich wenig Kontakt pflege, auch wenn ich sie jeden Tag sehe.

Bei der Studie gibt es noch weitere Aspekte, die sich recht fragwuerdig
darstellen: die Stichprobengroesse mit 169 Personen in 73 Haushalten ist 
angesichts von zig Millionen PC-Nutzern laecherlich; wesentlicher ist 
aber m.A. der ausgewaehlte Ort Pittsburgh. Dazu muss man wissen, dass 
dort in Pennsylvania quasi das Ruhrgebiet von Amerika liegt, mit Kohlen- 
und Erdoelfeldern und einer Stahlindustrie, und exakt den gleichen Struktur-
problemen (Arbeitslosigkeit, Verkehrs- und Umweltprobleme) wie das hiesige 
Ruhrgebiet. Der Ort liegt natuerlich nahe, weil sich dort auch die
CMU befindet, aber ich bezweifle, dass die Bevoelkerungsverteilung dort
auch nur annaehernd derjenigen der USA oder auch nur des amerikanischen
Internets entspricht. 

Die Kategorisierung nach dem Alter "Adult" vs. "Teen" ist auch recht schwach,
deutet sie doch mit einem Mean von 0.28 (Teen=1,Adult=0) darauf hin, dass
Erwachsene extrem stark vertreten sind. Und das werden, bei dieser geringen
Differenzierung, nicht gerade Leute in einer Altersgruppe unter 30 sein,
die mit der Technologie, wie die "Teens", aufgewachsen sind. Frust und
"Loneliness" ist so in die Studie einprogrammiert. Dasselbe gilt fuer die
Geschlechterverteilung, die mit 0.56 (1=W,0=M) wohl annaehernd der Gesamt-
bevoelkerung entspricht, aber definitiv nicht dem Verteilungsprofil der
Userschaft etwa im Usenet. Eine Haushaltsgroesse von 4.08 (Mann, Frau, 2
Kinder) mag zwar auch dem Suburban-Lifestyle in Pennsylvania entsprechen, 
traegt aber kaum dem Trend zum Singletum Rechnung (dabei stellt sich mir
die Frage, ob nicht auch eher Singles versucht sein koennten, Kontakte im
Internet zu haben und zu pflegen, als verheiratete Familienvaeter und -muetter?)
Last not least sind auch die angegebenen Streuungen bei den Groessen der
sozialen Netzwerke und der Internet-Nutzungszeit recht hoch, was ich durchaus
fuer plausibel halte, andererseits daraus irgendwelche Folgerungen zu ziehen
liegt auf dem gleichen Signifikanzniveau wie die Korrelation zwischen der
Abnahme von Stoerchenpopulation und Geburten. Bei einem Mittel von 2.43h
Internetnutzung, also 20 Minuten pro Tag (vermutlich noch die Haelfte davon
Wartezeit auf die Webseiten) sehe ich BTW weder Chancen, irgendeinen neuen
Netz-Kontakt per E-Mail aufzubauen, noch einen RL-Kontakt zu verlieren:
pro Tag sieht der Durchschnitts-Ami etwa 3h TV, da spielen 20 min Surfen+E-Mail-
Lesen und -Beantworten beileibe keine Geige.

Fazit nach der ersten Durchsicht: wie Mel schon meinte:
Lies, Damned Lies, & Statistics.

> Achja: mein erstes Zusammentreffen mit Holger waren ja
> auch "nur knapp 12 Stunden" konzentrierte Gespraeche.

Koennten wir bei Gelegenheit mal bei einem Gegenbesuch auf 24h aufstocken.

> Zwei einsame Menschen dagegen bleiben auch dann einsam,
> wenn sie sich 12 Stunden gegenuebersitzen.

-- 
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