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Re: Einfach nur Ueberforderung?



Kristian schrieb:

> In den Nachrichten kamen heute Berichte ueber die neue englische
> und irische Anti-Terror-Gesetzgebung, nach der das Recht auf
> Zeugnisverweigerung eingeschraenkt werden soll und nach der
> Aussagen von Polizisten anders bewertet werden sollen als die
> Aussagen anderer Buerger.
> 
> Das ist nur ein weiterer Schritt in einer langen Reihe von
> gesellschaftlichen Veraenderungen weltweit, die alle auf
> technische oder rechtliche Weise Individual- und Buergerrechte
> immer weiter beschneiden: Der schleichende Verlust des Rechts
> auf Anonymitaet durch den Verlust anonymer Zahlungsmittel,
> Veraenderungen der rechtlichen Situation in Bezug auf
> Lauschangriffe in der Wohnung, zunehmende Ueberwachung von
> Telekommunikation und Installation von Videokameras zur
> Ueberwachung oeffentlicher Plaetze sowie hunderte von weiteren
> Kleinigkeiten.
> 
> Diese Entwicklung beschraenkt sich nicht auf Grossbritannien,
> Irland oder auch Deutschland, sondern findet sich in aehnlicher
> Form zum Beispiel auch in vielen asiatischen oder arabischen
> Laendern. Es handelt sich also um ein globales Phaenoemen.
> 
> Mir stellt sich die Frage, welche tieferliegenden
> gesellschaftlichen Kraefte am Werk sind, die eine solche globale
> Entwicklung favorisieren?
> 
> Marit antwortete auf meine Frage quasi spontan, dass es sich
> ihrer Meinung nach um Ueberforderung handelt. "Denke doch einmal
> an Eltern", meinte sie, "die mit dem Verhalten ihrer Kinder
> ueberfordert sind und die dann anfangen zu pruegeln oder
> sonstwie autoritaer-blockierend reagieren." Stimmt das?

Ja. Ich denke ebenfalls, dass es sich hierbei um "Ueberforderung"
handelt. Allerdings besagt Ueberforderung zu wenig , weil es
gar keinen anderen Modus als den der "Ueberforderung" kognitiver
Systeme gibt (Unterschied: Menschen denken und fuehlen, soziale
Systeme kommunizieren.). Menschen wie auch Gesellschaften sind
permanent ueberfordert (analog dem, dass es kein Verstehen gibt, nur
"Stoerungen", die die Systeme gemaess ihrer Regelungsgroessen (Denken
/ Sprache, unter Umstaenden jeweils mit Anspruechen an Logik) dann
einfangen und formen.) Viele Stoerungen werden einfach weggeregelt
(sie stoeren also nicht), Unmengen an Stoerungen werden schlicht
ignoriert (sind also keine (ein anderer Beobachter koennte sie
dagegen eventl. nicht ignorieren)), wiederum andere Stoerungen
veranlassen entweder zu Systemanpassungen oder koennen das System
unter Umstaenden zerstoeren. Unter letzterem "Eindruck" stehen
derzeit weltweit die politischen und die Rechtssysteme in Bezug zu
tatsaechlich vorhandener free speech, die sich nicht wie bislang
durch Zensureliten (Redaktionen) regeln lassen.

Soziologisch unterscheidet man drei verschiedene Formen sozialer
Systeme: segmentaere Interaktionssysteme (Skatspielerrunde, Flirt,
Treffen von Bekannten in Fussgeangerzone...), stratifikatorische
Organisationssysteme (Betriebe, Vereine, Kirchen...) und
funktional-differenzierte Gesellschaftssysteme (Geld, Recht,
Wissenschaft, Kultur, Kunst, grosstechnische Systeme (Strassen,
Stromnetz, Kommunikationsnetze (= "Draht und Protokolle"))). Sie
loesen die Probleme der Stoerungen von Kommunikationen auf
unterschiedliche Weisen. Interaktionssysteme sind nicht sonderlich
komplex ausgelegt und dabei stark auf die Versorgung von
Kommunikationen durch denkende Menschen angewiesen. Historisch
gesehen haben Menschen laengste Zeit unter solchen Bedingungen
gelebt. Organisationssysteme kennen bereits formale Arbeitsteilung,
haben Verfahren zur Regelung struktureller Konflikte (etwa wenn
Motivation gefaehrdet ist (warum sollte eine Pflegerin den
Leprakranken versorgen, wenn sie dadurch selbst gefaehrdet ist? Sie
erhaelt ihren eigentlichen Lohn durch Gott. Heute gibts stattdessen
Geld dafuer, sich in die Naehe einer brennenden Oelquelle zu begeben,
tendentiell um so mehr, je mehr man sich verkauft. Geld fungiert als
Universal-Motivierer, obwohl man satt ist, nicht friert, Sex und auch
sonst hinreichenden Spass hat: 5 Tage mal 8 Stunden mal 48 Wochen mal
etwa 60 Jahre (wenn man Schuleintritt mitzaehlt). Es ist statistisch
unwahrscheinlich, dass Menschen so stetig arbeiten.)). In OSystemen
ist traditonale Form der Herrschaft noch moeglich, ein Koenigreich
entsprach eine Organisation, die im Gottkoenig auch logisch ein
befriedigendes Superzentrum hatte (nur die Theologen hatten noch mit
dem logischen Problem zu tun, den "Teufel" zu verorten). Jeder
Untertan wusste, wenn er auch sonst kaum etwas wusste was seinen
Alltagshorizont ueberstieg, wie weit er vom Koenig weg ist. Moderne
Gesellschaftssysteme nun, erste Strukturen lassen sich im 16.
Jahrhundert ausmachen (typisch: Trennung Politik/ Oekonomie, Trennung
Religion/ Politik (danach: Religion/ Wissenschaft)...) separieren
spezifische Kommunikationen (deshalb: funktionale Differenzierung)
und schliessen sie logisch ab (so dass die Umwelt nur als Stoerung
wahrgenommen werden kann): Zahlungen reproduzieren spezifisch nur
weitere Zahlungen, Gesetze reproduzieren spezifisch nur weitere
Gesetze, wissenschaftliche Argumente schaerfen spezifisch nur
wissenschaftliche Argumente usw. Es ist nicht kontrollierbar, wie
wissenschaftliche Erkenntnisse sich politisch oder oekonomisch oder
kulturell auswirken. (Wer viel Geld hat, hat in einem Rechtstaat
nicht Narrenfreiheit beim Uebertreten von Gesetzen, um den Einfluss
auf die politische Herrschaft muss er sich bemuehen, auch
wissenschaftlich hat er nicht das letzte Wort oder auch nur
verlaesslich gute Karten beim anderen Geschlecht oder beweist
automatisch "guten Geschmack" in Sachen Kunst.)

Bislang hat die Politik und Rechtsprechung noch gar nicht recht
begriffen, dass sie sich in einer funktional-differenzierten Umwelt
befindet, in der es kein Primat von bestimmten Systemen mehr gibt.
Das Internet als Universal-Kommunikationsmedium macht das jetzt
ruecksichtslos deutlich: Im Bereich der Wissenschaft und Politik
dadurch, indem z.B. dort das Projekt der Demokratisierung, die
Entmachtung der bislang faktisch noch immer regierenden Koenige,
fortgesetzt wird.

Und es kommt noch etwas hinzu, weshalb derzeit blind aus
Ueberforderung losgepruegelt wird. Das kann man am Wahlkampf
beobachten: Die SPD bspw. meint (wie auch die PDS, nur ungleich
abgeschwaechter) ein programmatisches Primat der Politik gegenueber
dem Markt behaupten zu muessen, die FDP besteht auf einem Primat des
Marktes gegenueber der Politik; die Gruenen changieren und versuchen,
die oekologische Dimension irgendwie daran anzudocken (ob
sozialistisch oder oekolibertaer); die CDU changiert ebenfalls
"pragmatisch", jedoch ohne ausgewiesene Programmatik mit einem
Quasikoenig (und koennte sich durch diese Opportunitaet (nett
formuliert: programmatische Offenheit) strukturell sogar als die
modernistischste aller Parteien empfehlen, weil die innere Demokratie
der anderen Parteien nicht fuer hinreichend programmatische Offenheit
sorgen kann). Bis in die 80er Jahre hinein gab es eine
Universalkategorie, die im Zentrum saemtliche linker, rechter und
oekologischer Kalkuele stand: Arbeit. Die neue Unuebersichtlichkeit
stellte sich ein, als die Arbeitskategorie weder laenger zur
Ausbildung des Selbstverstaendnisses eines Menschen von sich selber
mehr herhalten konnte (wenn man heute jemanden Unbekanntes auf der
Fete fragt, was er denn so mache, erhaelt man als Antwort eher
Free-Climber und Starkwindsurfer als Sachbearbeiter im Amt
Nortorf-Land. (Die Frage nach dem, was jemand arbeite, ist zudem
jung: Vor der Industrialisierung fragte man nicht nach dem, was
jemand arbeite, sondern woher er komme)), noch Arbeit zweifellos den
Sozialstaat auch weiterhin finanzieren wird und Arbeit oekologisch
immer bedeutet: Natur kaputt machen. Den westlichen
Turbo-Industriegesellschaften ist mit der Arbeit auch ihr
kategoriales Zentrum verloren gegangen, mit dem sich eine Theorie der
modernen Gesellschaft, eine politische Strategie, eine oekonomische
Strategie formulieren liess. Jeder Haensel auf der Strasse weiss seit
spaetestens ein zwei Jahren, dass Arbeitsmarkt und Kapitalmarkt
voneinander abgekoppelt sind, dass Keynes und Friedman nicht laenger
die besten Antworten sein koennen. Mit dem Verlust der
Arbeitskategorie als (politische, oekonomische, psychische,
kulturelle...) Universalsortiermaschine ist die kognitive
Ueberforderung der Menschen und sozialen Systeme derzeit auf die
Spitze getrieben. Wenn der Halt verloren geht, weil sich nur noch
Dilemmata auftun (die ueberforderten Eltern heute moegen weder das
autoritaere Programm ihrer Grosseltern noch das antiautoritaere ihrer
Eltern kopieren), steigt die Gefahr der Regression: Es kann
ein bisher erreichtes Niveau zeitweise sogar wieder unterschritten
werden, n Bezug zur Rechtsprechung/ politischen Souveraenitaet und
Internet: Die bislang erreichten Buergerrechte zur Selbstbestimmung
werden beschnitten. Doch ich sehe das nicht so schwarz, weil
gleichzeitig und unentschieden die Chance steigt, es jeweils besser
als vorher zu machen. Risikogesellschaft.

An die Stelle des geheimen Gottesbegriffs "Arbeit" rueckt nun
"Kommunikation". Der politische Konflikt entzuendet sich immer
weniger nachhaltig an der Kontrolle ueber die Arbeitsmittel und deren
Ergebnisse (sowie an deren oekologisch verantwortungsbewussten
Zustandegekommensein), sondern um ein Beibehalten der
Kommunikationsprivilegien aus der Arbeitsgesellschaft auch unter
Bedingungen einer radikal funktional-differenzierten
Weltgesellschaft. Die Parteien haben es oberflaechlich betrachtet
noch nicht gemerkt. Aber es gibt wohl nur wenige Leute die nicht
zumindest spueren, dass bei den ganzen Auseinandersetzungen insgesamt
irgendetwas ganz gewaltig schieflaeuft.

Gruss, Martin