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Re: Bereichernde Dysfunktionalitaet?



Holger Veit pu ciska di'e:

> > Ein aehnliches Missverstaendnis tobte einige Jahre lang um das Thema
> > Unicode herum.  Viele Leute meinten, dadurch dass man nur noch ein
> > Kodierungssystem hat, wuerden viele Moeglichkeiten entfallen und eine oede
> > Landschaft entstehen.  Das Gegenteil ist aber der Fall.  Wenn ein ganzes
> > System auf UTF8 umgestellt ist, ergeben sich viel mehr sinnvolle
> > Spielmoeglichkeiten als wenn man Dutzende verschiedener Kodierungen auf
> > dem System hat.
> 
> Gerade Unicode ist bei den Japanern aufs Schlimmste verhasst, weil es
> "anders" codiert als die gaengigen nationalen Systeme. 

War. Inzwischen gibt es in Japan eine starke Unicode-Fraktion.

> Heisst: es ist kein
> eindeutiges Codierungssystem, da es nicht semantische Einheiten codiert, 
> sondern lediglich Zeichenbilder. Man fordert dort, dass Kanji-Zeichen,
> welche in Japan, China und Korea unterschiedliche Bedeutung, aber dasselbe
> Aussehen besitzt, im Coderaum einen anderen Zahlenwert besitzen muss, da
> man "anders nicht mehrsprachlich schreiben koenne, bzw. ein Computer nicht
> in der Lage sei, die mehrsprachliche Texte korrekt bearbeiten zu koennen".

Eigentlich bedeuten Han-Zeichen ueberall in etwa das gleiche.  Wer die
unterschiedlichen Bedeutungen betont, ist sich meist einfach der
Kernbedeutung nicht genuegend bewusst.

> Die Forderung entspricht etwa derjenigen, fuer deutsche und englische
> Buchstaben etwa eine andere ASCII-Codierung zu benutzen, damit man eine
> Textverarbeitung schreiben kann, welche Anglismen automatisch ins Deutsche
> konvertiert. 

Japanische Unicode-Gegner wuerden sagen: die Forderung der
Unicode-Befuerworter entspricht derjenigen, fuer deutsche und russische
Buchstaben die gleiche Kodierung zu verwenden, sofern sie (wie z.B. A, B,
H, P etc) gleich aussehen.  Auch der Vergleich hinkt. 

> Bei Deutsch und Englisch mit je 26 Buchstaben geht das noch;
> der Zeichenvorrat in CJK geht in die Tausende, Zehntausende, wenn man alte,
> heute ungebraeuchliche Kanji hinzunimmt. 

CNS hat 70000 Zeichen.

> Der Grund fuer den Widerstand ist klar: Unicode ist "not invented
> here", und die Forderung nach einem eindeutigen Semantikraum bedeutet,
> dass man mit 16bit-Codierung nicht mehr auskommen wird und zur
> naechstgroesseren Stufe 32 bit gehen muss.

Man kaeme vielleicht mit 16 bit aus.  Aber ich glaube auch "not invented
here" ist das wirkliche Motiv des Widerstands.  Letztlich schneiden sich
die Japaner damit ins eigene Fleisch, denn wenn die Han-Zeichen einen
Semantikraum haben, dann ist es eben kein spezifisch japanischer.  
Unicode erlaubt bessere Arbeitsteilung zwischen den CJK-Sprachen und damit
besseres Verstaendnis unter diesen Sprachen und die Staerkung der Stellung
jeder einzelner dieser Sprachen.  

> Fuer die ueberwiegende Mehrheit der computernden Weltbevoelkerung wird
> Unicode damit dann unbrauchbar und untragbar, weil sie ausser
> ISO-Latin-1..15 99.9% aller Zeichen in einem megabytegrossen Font
> niemals nutzen wird, aber die Ineffizienz der Codierung dafuer bis ins
> letzte Programmbyte hineingetragen wird.

Die GNU-C-Bibliothek GlibC arbeitet seit Version 2.1 intern mit UCS-4,
d.h. 32 Byte.  Da wuerde schon der Krempel reinpassen, den die
Unicode-Gegner gerne drinhaetten.  Aber es waere Verschwendung und wuerde
zumindest dafuer 
 
> Das Thema Unicode als Weltcodierung ist laengst nicht ausdiskutiert - ich
> wette, als naechstes wollen 100 Millionen Japaner ihr eigenes Hanko *) als
> eigenes Zeichen in Unicode haben - zum einzigen Zweck, ihren eigenen
> Nationalismus zu konservieren. Franzoesischer Sprachreinheitsfaschismus im
> Fernoststil.

Viele Japaner, besonders unter den Unicode-Gegnern, moechten aber lieber
gerne ganz unsystematische nationale Marotten pflegen, die als eine Art
Geheimwissen dienen und Japan zu etwas besonderem machen, zu dem ein
Auslaender nicht leicht Zutritt gewinnt. An der Staerkung und Verbreitung
der eigenen Kultur im internationalen Kontext ist ihnen nicht gelegen.
Ganz im Gegensatz zu den Franzosen.  

Einen Zusammenhang zum Faschismus kann ich aber weder bei JP noch bei FR
erkennen.

> > Warum?  Es wird auf einer Ebene Regelmaessigkeit hergestellt, auf der sich
> > ohnehin keine Kreativitaet abspielt.  Dadurch wird auf der
> > darueberliegenden Ebene fuer die Kreativitaet mehr Freiraum geschaffen.
> > 
> > > Weder pure Anarchie noch erstarrte Regelhaftigkeit macht Spass
> > 
> > Berechenbare Regeln ermoeglichen unberechenbare Inhalte, die dann Spass
> > machen.
> 
> Es ist eher der Regelbruch, der Sprache interessant macht, etwa die Verball-
> hornung von Woertern, um diese dadurch besonders hervorzuheben oder den
> Leser in eine Unklarheitssituation zu bringen, wo eher nicht mehr genau
> entscheiden kann, ob der Schreiber einfach nur Legastheniker ist oder
> bewusst eine Aussage mit einer Flaschschreibung verbindet.

Die Verballhornung von Worten ist kein Regelbruch sondern eine Anwendung
von Regeln.  Verballhornung ist auch in Lojban moeglich.

Wir reden hier wohl noch immer von unterschiedlichen Ebenen.  Ich meine
die Regeln, die es uns erlauben, Wortelemente so zu kombinieren, dass
jemand anders unsere Absicht versteht.

Aehnliches erlaubt Unicode.  Es macht einfach Dinge moeglich, die vorher
nicht moeglich waren, z.B.

	$ cat chinesisch.txt japanisch.txt deutsch.txt | wc -c
 
In aehnlicherweise erlaubt Lojban Wortspiele, die eine wildgewachsene
Sprache nicht erlaubt.  Natuerlich erlaubt es auch eine angemessene
Uebersetzung japanischer Patentschriften.  Wenn ich solche Schriften ins
Deutsche oder Englische uebersetze, wuensche ich mir immer, ich koennte
stattdessen nach Lojban uebersetzen.  Dann wuerde nicht so viel
Information verloren gehen und, selbst wenn der Text schwer zu lesen
waere, koennte man immer nach einiger Muehe genau wissen, was wie
zuzuordnen ist.

Eine wildwachsende Sprache laesst sich in etwa mit einem wildwachsenden
System von Verkehrsregeln oder Kodierungen vergleichen.  Sicher
funktioniert das irgendwie.  Sicher organisiert sich das Chaos wundersam
von selbst.  Aber Selbstorganisation hat ihre Grenzen. Das Problem der
"Sprachverhunzung" legt diese Grenzen besonders sichtbar offen.  
Vorhandene Kombinationsregeln werden nicht genutzt und verfallen.
Stattdessen entsteht ein unstabiles Kreolisch, in dem man keine Literatur
und keine wissenschaftlichen Artikel mehr schreiben kann.

Wenn man die Maengel der Selbstorganisation durch bewusste Organisation
ueberwinden kann, sollte man m.E. nicht zoegern, dies zu tun.  Dadurch
wird die Welt niemals langweilig.  Es entstehen immer neue chaotische
Raeume, in denen neue Selbstorganisationswunder passieren und passieren
muessen.  Das ist Fortschritt.

-phm