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        Über Menschen, die man außer mit dem Messer nicht verletzen kann

                Wolfgang Pohrt antwortet

        Am 9. November meldete Meißen einen Lehrerinnen-Mord. Während
        des Unterrichts hatte eine maskierte Person 22mal mit dem
        Küchenmesser zugestochen. Es war ein Schüler im Alter von 15
        Jahren. »Fast noch ein Kind«, meinte »Bild«. Werden die Täter
        immer jünger?

                Jung sein ist eine Herzensfrage, sagen unsere Alten. Von
                denen behauptet übrigens niemand, daß sie immer
                säuischer und bestialischer würden, wenn wieder mal ein
                Kinderpornoring aufgeflogen ist.

        »Ich habe sie einfach gehaßt«, soll der Junge bei seiner
        Festnahme gesagt haben. Das erklärt nach allgemeiner Überzeugung
        nichts.

                Deshalb passieren solche schlimmen Dinge. Sind Leute,
                für die ein Mord ein Raubmord oder Sexualmord sein muß,
                damit sie ihn begreifen können, nicht unaussprechlich
                fies? Muß man sie dafür nicht hassen? Ich wüßte kein
                besseres Motiv für einen Mord.

        Aber umgebracht haben Sie deshalb noch keinen.

                Nicht meine einzige Unterlassung. Auf dem Nangaparbat
                war ich auch noch nie. Im Leben eines jeden Menschen
                gibt es viele Dinge, die er nicht geschafft hat.

        Eine Woche vor diesem Mord ging es in Bad Reichenhall rund. Vom
        Fenster eines Wohnhauses aus wurde das Feuer auf Passanten
        eröffnet: sieben Verletzte, drei starben. Der Täter erschoß
        ferner seine bei ihm weilende Schwester und zuletzt sich selbst.
        Ein Lehrling war es diesmal, gerade 16 Jahre alt. Wie erklären
        wir uns das?

                Ist das so schwer? Man lehrt uns, alle Menschen ohne
                Ansehung der Person zu achten. Die Menschen sind
                wesensgleich, heißt das, und das Wesen ist gut. Wir
                haben hier einen analytischen Befund und ein Werturteil.
                Der Junge nun hat zwar den analytischen Befund
                akzeptiert, aber das Werturteil verworfen. Die Menschen
                sind gleich heißt dann »gleichermaßen tötenswert«.

                Bemerkenswerterweise hielt er dies Urteil durch bis zur
                letzten Konsequenz und tötete am Ende sich selber.
                Solcher Rigorismus hat einmal die Person als Subjekt
                ausgemacht und früher die Figuren in Geschichten und
                Filmen, an die man sich länger als eine halbe Minute
                erinnert. Heute sind Überzeugungen verhandelbar und
                situationsbedingt. Kein Oppositioneller, der nicht
                Dialogbereitschaft erkennen lassen würde. Er erwartet
                dann ein Angebot und versucht, für seine Leistung,
                nämlich das Umdenken oder den Paradigmenwechsel, einen
                möglichst guten Preis zu kriegen.

        Aber woher kommt solcher Menschenhaß? In Meißen wie in Bad
        Reichenhall wurden im Nachlaß der Jugendlichen angeblich brutale
        Computerspiele und Gewaltvideos gefunden.

                Irgendwo muß das Zeug ja liegen. Aufessen kann man die
                Datenträger nicht, und sie werden in Mengen verkauft.
                Für Kinder ist das Abspielen die Medizin, die sie
                brauchen, damit die brutale wirkliche Welt für sie
                erträglich wird. In den beiden Fällen, über die wir
                sprechen, war die Medizin zu schwach. Die Realität war
                stärker.

        Was meinen Sie damit?

                Man braucht ein Gewaltvideo wie »Das
                Kettensägenmassaker« nicht zu kennen, um es gelegentlich
                in den Recorder schieben zu wollen. Der Name sagt alles,
                er ist Erleuchtung, Erlösung und Verheißung. Nicht
                immer, aber manchmal. Zum Beispiel dann, wenn, wie beim
                letzten OSZE-Gipfel in Istanbul neulich, Jelzin und
                Schröder Arm in Arm zu sehen sind.

                Um Triebabfuhr geht es dabei sicher auch. Viel
                wichtiger, vielleicht sogar lebenswichtig aber ist es,
                einen Verlust aufzufangen, den Verlust des Glaubens an
                die Menschheit und die Welt. Er ist die Voraussetzung
                dafür, irgend etwas lieben, mögen oder schätzen zu
                können, und das wiederum ist die Bedingung allen Glücks.
                Glück schließlich ist das einzige Mittel, welches die
                bösen Impulse besänftigt, die zweifellos jeder Mensch
                auch besitzt.

                Zum Glauben an die Menschheit und die Welt gehört
                zwingend die Idee der Gerechtigkeit und damit die der
                gerechten Strafe. Die Idee, weil es die gerechte Strafe
                real noch nie gegeben hat. Sie existiert nur in der
                Gestalt einer Hoffnung oder Erwartung, egal ob des
                Jüngsten Tages, eines bewaffneten Aufstands oder eines
                Revolutionstribunals.

                Diese Hoffnung und Erwartung aber ist tot. Das
                moralische Empfinden rebelliert, und der Verstand sagt:
                Es kann nicht sein, was ich sehe. Die Bilder beweisen:
                Es ist aber so. Es ist nicht nur so, sondern es zeigt
                sich so, wie es ist, in der schamlosesten Weise und in
                aller Öffentlichkeit. Und es zeigt sich so, weil es sich
                seines Sieges und seiner Fortdauer bis in alle Ewigkeit
                sicher ist.

                Das ist dann der Punkt, wo die Gewaltphantasien
                einsetzen müssen. Sie versprechen eine Welt, wo wirklich
                einmal die Letzten die Ersten wären und uns die
                Ausbeuter nicht später als bewunderte Wohltäter
                begegnen. So können die Gewaltphantasien den Glauben an
                die Menschheit retten und vor der fürchterlichsten
                Verzweiflung schützen. Bei den Jungen von Meißen und Bad
                Reichenhall konnten sie es nicht.

        Wir bezweifeln stark, daß die beiden Jungs sich für OSZE-Gipfel
        und dergleichen interessierten.

                Sicher nicht. Das Beispiel war nur ein didaktisches
                Brückchen, eigens errichtet zu dem Zweck, KONKRET-Leser
                mit ihren verborgenen Empfindungen vertraut zu machen.
                Daß ein Fischer oder Scharping auf der Mattscheibe die
                Phantasie des Betrachters auf Abwege führt und in seinem
                Herzen dann böse Wünsche keimen - das räumen
                KONKRET-Leser vielleicht eher ein, weil sie in diesem
                Fall ihre Regungen politisch rationalisieren können.

                Es sind aber nicht die politischen Taten der Personen,
                die uns ein süchtiges Verlangen nach Kettensägen,
                Kreissägen und ähnlichem Werkzeug empfinden lassen, wenn
                wir ihrer ansichtig werden müssen. Vielmehr sind es ihre
                Gesichter. Und es sind nicht nur ihre Gesichter. Es sind
                die Gesichter aller, die das Fernsehen zeigt.

                Es zeigt sie uns in Großaufnahme, und dabei blicken wir
                obendrein gleichsam durchs Schlüsselloch. Wir können
                hinschauen, ohne den Blick senken zu müssen. Im
                wirklichen Leben wäre die Art, wie wir Gesichter auf der
                Mattscheibe betrachten, ein unerhörter Affront. So
                schaut man Sachen an, aber keine Menschen. Wir sind also
                eingeladen, so lange, so genau und so erbarmungslos
                hinzuschauen, wie wir es im wirklichen Leben nie
                dürften. Aus Moderatoren und Redakteuren, aus Politikern
                und Talk-Show-Gästen, aus Sportlern und Starlets
                beiderlei Geschlechts formt sich dann, nach gründlicher
                Prüfung und reiflicher Überlegung, das Bild einer
                Gattung, an deren Erhalt uns wenig liegen kann.

        Ist also doch das Fernsehen schuld?

                Das Fernsehen ist heute alles, ein Staat und Wirtschaft
                umfassender Apparat. Zugleich liefert es das Weltbild.
                Es liefert das zutreffende Bild einer Welt, in welcher
                jeder jeden und alles verkauft, und zuallererst sich
                selbst. Ein millionenschwerer Tennis-Star ist sich für
                Brotaufstrich-Reklame nicht zu schade. Ein Präsident
                nimmt lieber die Ausstrahlung einer Video-Aufzeichnung
                über sein erbarmungswürdiges Sexualleben hin, als auf
                sein Amt zu verzichten.

                Alles wird in den Dienst der Selbsterhaltung gestellt,
                das Selbst am Ende auch. Selbsterhaltung geht dann in
                Selbstauslöschung über. Das Fernsehen zeigt uns
                Personen, von denen nichts mehr übrig ist. So muß man es
                verstehen, daß töten im Jargon heute auch »alle machen«
                heißt. Das wahre Horror-Video läuft im Hauptprogramm zur
                besten Sendezeit. Wir sehen eine Welt der lebenden
                Leichen.

        Warum schaltet man nicht ab?

                Weil das wirkliche Leben zum Einschalten zwingt. Es ist
                nicht auszuhalten, darum sitzen die Kinder vor dem
                Monitor. Man flieht und kommt vom Regen in die Traufe.

        Flucht wovor?

                Vor der Welt, die für ein Kind in erster Linie die
                Eltern sind. Und die sind Abziehbilder der Gestalten,
                die man im TV zu sehen bekommt. Selbsterhaltung als
                Selbstauslöschung praktizieren alle. Was ist der
                Mittelstand ohne die Fassade von Gesetzestreue,
                Sittenstrenge, Rechtschaffenheit? Und wie präsentiert
                sich der Mittelstand heute? Skrupellos und verlottert,
                und die einzige Energie, die er kennt, ist die
                kriminelle. Deshalb fühlt die Nation sich würdig
                vertreten durch einen Außenminister mit Vergangenheit.

                Aber das ist gar nicht der entscheidende Punkt. Der
                Verbrecher bricht das Gesetz, um sein Selbst zu retten.
                Statt als kleiner Angestellter tagaus, tagein hinter dem
                Schalter einer Bank zu verkümmern, überfällt er sie. Er
                nimmt sich mit der Waffe, was er braucht, um dafür nicht
                seine Lebenszeit, also sein Leben hergeben zu müssen. Er
                unterwirft sich keiner Regel, aber seine Lebensführung
                besitzt einen vernünftigen Sinn. Verbrecher sind sie
                also nicht, unsere abgehechelten kleinen
                Selbstverkäufer, trotz aller kriminellen Energie. Sie
                sind es nicht, weil der Lohn der Schlechtigkeit
                entfällt. Er wird nicht einmal mehr erwartet. Die
                Lumpereien dienen nicht der Befreiung von der Arbeit,
                sondern sie sind selber welche von der härtesten und
                stressigsten Art. Ihr einziger Zweck ist das endlose
                Weitermachendürfen. Das brauchen die Entkernten, weil
                sie an nichts mehr hängen und ohne das Weitermachen ihr
                Leben wie ein angestochener Luftballon zusammenfällt.

                Sie können den Kindern nicht zeigen, wie man lebt, und
                sie können sie nicht lieben. Sie können es nicht, weil
                sie nichts mehr lieben können, nicht einmal sich selbst.
                Was tun allein gelassene, ungeliebte Kinder? Sie
                schalten den Fernseher ein.

        Die jugendlichen Täter als Opfer und Rebellen? Im Nachlaß eines
        der Jungen wurden Hitler-Bilder entdeckt.

                Schröder-Bilder wären schlimm. Vom Nationalsozialismus
                hört ein 16-Jähriger heute, wenn irgendwo wieder
                Gedenkveranstaltung oder Feierstunde ist. Die
                TV-Nachrichten bringen es dann, wie Thierse, Vollmer,
                Süßmuth, Schily auf Hitler schimpfen. Und der Junge
                überlegt: Wer solche Gegner hat, kann kein ganz übler
                Bursche sein. Ich täte es, wenn ich es nicht besser
                wüßte.

        Wird die Jugend zu wenig über die Nazis aufgeklärt?

                Wer sollte es tun, ohne daß ein Junge denkt: Lieber die
                als der?

        Die Wehrmachtsausstellung, was immer man gegen sie einwenden
        kann, hatte es versucht.

                Wie schön, daß sie vorbei ist. Mir sind vor allem die
                vielen von der Presse angekündigten Eröffnungsfeiern in
                Erinnerung. Mein Eindruck war, daß Veranstalter und
                Festgäste sich dabei wechselseitig Pomade auf den
                Hintern rieben. Nichts gegen erfolgreiche, wohlgenährte,
                glatt rasierte Leute im dunklen Anzug mit Fliege oder
                Schlips. Sowas gehört zum Opernball, und gegen
                Opernbälle wüßte ich nichts einzuwenden.

                Aber wenn solche Leute sich redenschwingend in Pose
                werfen, und wenn sie sich dann auch noch wichtigtuerisch
                neben den Fotos abgelumpter, ausgemergelter,
                stoppelbärtiger Menschen zeigen, die nach ihrem Tod am
                Galgen hängend geknipst worden sind, dann empfinde ich
                das als obszön und pervers. Zumal der Veranstalter ganz
                andere Maßstäbe anlegt, wo es ums Recht am eigenen Bild
                geht. Die Verbreitung eines Fotos, das ihn ja keineswegs
                am Galgen zeigte, sondern nur mit leicht ramponiertem
                Konterfei, wurde untersagt.

        Wir haben bislang nur von den hiesigen Verhältnissen gesprochen,
        aber die meisten Amok-Kids gibt es in den USA.

                Weiß man das? In den frühen 80er Jahren gab es einen mir
                bekannt gewordenen und von keiner Zeitung erwähnten
                Fall, und vielleicht war das gar kein Einzelfall. Ein
                14jähriger Junge hatte seine Mutter erstochen: Sie von
                Beruf Kinderpsychologin, der Vater Pädagoge, linkes
                akademisches Milieu. Klare Sache: Gegen zwei von der
                Sorte hat ein Junge nur bewaffnet eine Chance. Warum?
                Menschen ohne Gewissen, ohne Selbst, ohne Scham und ohne
                Würde kann man außer mit dem Messer nicht verletzen.

                Man kann sie weder bloßstellen noch kränken, weil hinter
                der Fassade oder der Maske nichts ist. Sie brechen nicht
                zusammen, und es bricht keine Welt für sie zusammen,
                wenn ihnen bewiesen oder wenn öffentlich bekannt wird,
                daß sie verächtliche kleine Schurken sind.
                Paradebeispiel sind die Clintons, die neuerdings wieder
                zu dritt Hand in Hand für die Kameras posieren. Das ist
                der Menschentyp, der Kinder - und nicht nur sie - zur
                Waffe greifen läßt.

        http://www.infolinks.de/konkret/2000/01/pohrt.htm


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