[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Re: [FYI] Politik im Netz



In schulung.lists.fitug-debate you write:
>[Man kann technisch und sozial brauchbare Instrumente wie 
>Mailinglisten auch zugunsten eines Chat- und Webpopulismus mutwillig 
>in die Freak-, und Nerd-Ecke abschieben.                     --AHH]   

Mailinglisten und noch mehr Newsgroups haben konkrete
"Nachteile", die in diesem Artikel genannt werden:

>Dazu gehört auch, dass sich bei Web-Angeboten ein stärkeres 
>Ortsgefühl ausprägen kann. So wie ich ins Bürgerhaus gehe, um etwas 
>zu diskutieren, gehe ich zu einer Web-Site, weil ich weiß, da gehen 
>auch andere hin. Das kann sich bei solchen Angeboten viel stärker 
>ausbilden, als wenn ich zehn Diskussions-Mails bekomme, oder wenn ich 
>eine Newsgroup lese und die Threads durchklicke.

Das mit dem Ortsgefuehl ist fuer erfahrene Netznutzer ziemlicher
Unsinn, kann bei Anfaengern aber wirksam sein. 

Worum es eigentlich geht, ist das Problem "gefunden" zu werden.
Wie findet ein "interessierter Buerger" ein Diskussionsforum zu
einem bestimmten Thema? Er wird entweder die Website einer
Institution suchen (das ist das Modell, dass sich die
Websitebetreiber dieser Institutionen machen) oder er wird
einige Stichworte in eine generische Suchmaschine werfen und
sehen, was er findet (das ist, was tatsaechlich passiert).

Das waere natuerlich auch bei einer Mailingliste der Fall, wenn
diese in einem Webarchiv erfasst und aufbereitet wird. Fuer
Newsgroups ist das schon schwieriger - nur wenige Newsgroups
(dana? dang?) haben ein Archiv, das systematisch gefuehrt und
indiziert wird.  Services wie Deja sind dagegen loecherig,
langsam und zu unuebersichtlich, als dass sie korrekt
funktionieren wuerden.

>Außerdem lässt sich das Angebot von begleitendem
>Hintergrundinhalt besser und benutzerfreundlicher einbauen, als
>bei den anderen Möglichkeiten.

Webforen haben aus der Sicht des Betreibers ausserdem den
"Vorteil", dass sie mit einer CI versehen werden koennen -
selbst wenn man sich fuer das Thema nicht interessiert oder auch
nur die dort gerade im Moment vertretene politische Meinung
nicht teilt, so leuchtet einem dennoch auf jeder Seite links
oben das gruene CDFSUPD-Parteilabel entgegen - aus irgendeinem
Grund sind HTML-Mailinglisten nicht sehr populaer.


Der Hauptgrund fuer und zugleich gegen Webforen ist jedoch:

Als "Datenbank", die auf dem Server des Serverbetreibers liegt,
geniessen Webforen ausserdem besonderen Schutz durch das
Urheberrecht und sind leichter zu kontrollieren und zu
beeinflussen - nicht nur in der Optik, sondern auch inhaltlich.

Da die einzige Kopie der Diskussion in der Regel auf dem Server
lieget und die Beitraege nicht tausendfach in der Welt verteilt
worden sind, ist es fuer den Betreiber recht schnell und
ziemlich effektiv, missbeliebige Beitraege zu entfernen oder zu
ueberarbeiten. Selbst falls einige Leute von diesen Beitraegen
Kopien gemacht haben, ist dies fuer die Masse der Teilnehmer
irrelevant, da ihnen diese Kopien nicht oder nicht mehr
zugaenglich sind.

Im Vergleich dazu sind Mailinglisten und noch mehr USENET
Newsgroups sehr schwer zu kontrollieren, zu steuern und
aufzubereiten. Teilnehmern kann der Zugang zu diesen Medien
effektiv nicht verwehrt werden - ueber einen anderen Server,
einen Subexploder oder durch einfachen Wechsel der Mailadresse
ist ein Teilnehmer sofort wieder "drin". Missbeliebige
Nachrichten koennen nur sehr schwer bzw. gar nicht wieder
zurueckgezogen werden. Fremde Archive der Liste existieren in
grosser Zahl und sind faktisch nicht zu editieren.

Ein derart offenes Diskussionsforum ist fuer jede politisch
engagierte Gruppe ein sehr grosses Risiko und nur sehr schwer zu
steuern und gar nicht zu "besitzen". Kontrolle kann man in
solchen Foren nur ueber Konsens und sehr viel
Fingerspitzengefuehl ausueben - dies erfordert tatsaechliche
Auseinandersetzung mit den Teilnehmern, ihren Befindlichkeiten
und sehr viel Zeit. Im Gegensatz dazu kann man ein Webforum
einfach ueber das Ziehen einiger Hebel steuern (lies:
abwuergen).

Fuer die Diskussionsteilnehmer, jedenfalls die Ernsthaften, ist
dies genau der kritische Nachteil solcher Foren. Sie sind kein
neutraler Boden und sie koennen es konstruktionsbedingt nicht
sein. Da eine beteiligte Partei zwangslaeufig die vollstaendige
Herrschaft ueber die betreibende Technik hat, wird jeder
wirklich kontroversen Diskussion schon im Vorfeld durch die
blosse Drohmoeglichkeit mit Remote Strangulation Protocol
("Abklemmen! Jetzt!") der Boden entzogen. 

Wenn jedoch eine der teilnehmenden Parteien an einer Diskussion
staendig mit der Idee im Hinterkopf leben muss, jederzeit und
ohne weitere Notwendigkeit der Rechtfertigung ihre Stimme und
ihre Vergangenheit, d.h. alle bisher geschriebenen Beitraege im
Forum, verlieren zu koennen, wie koennte da eine demokratische
Diskussion entstehen? Ein solches Forum kann nach Konstruktion
nicht mehr leisten als eine Audienz von Bauern bei einem
Gutsherrn - Teilnehmer mit dem Hut in der Hand formulieren die
Probleme die sie mit ihrer Herrschaft haben, moeglichst ohne von
den Buetteln vor die Tuer gesetzt zu werden.

Natuerlich ist die Auseinandersetzung mit dem Kontrollverlust in
einer Newsgroup ein Problem fuer eine steife und langsame
Organisationen wie eine Parteien oder Parlamente. Man denke nur
an die Umlaufzeiten, die notwendig sind, um eine offizielle
Antwort im Namen der Organisation zu formulieren. 

Man denke nur an Methoden zum Umgang mit Stoerern oder
Provokateuren - soll man sie ignorieren, ernst nehmen oder
laecherlich machen? Man denke nur an die Ausbildungsdefizite bei
den meisten Organisationen - nicht jede Institution hat einen
Jonas Luster, der mit Deppen im Netz und in den eigenen Reihen
auf unkonventionelle und unbuerokratische Art fertig wird und
der weiss, worauf es bei der Repraesentation des eigenen
Unternehmens im Netz primaer ankommt.

Dennoch ist es fuer alle politischen Institutionen am Ende
notwendig, eine Form fuer politische Prozesse im Netz zu finden,
die auf neutralem Grund stattfindet, zensurfest ist und
archiviert wird. Und die obendrein zeitlich und raeumlich
entkoppelte Teilnahme erlaubt, denn nur so ist es den
Teilnehmern moeglich, Beitraege zu verfassen, die ueber den
Augenblick hinausgehen und die wirklich Substanz haben.

Kristian