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Technikersozialisation



> > Die von Heiko zitierte Studie über das mangelnde Interesse an technischen
> > Studiengängen und die Abwanderung der Studenten von technischen Fächern
> > hin zur Informatik ist übrigens ein schöner Beleg dafür, das nach wie vor
> 
> Kenne ich nicht. Inzwischen nehmen übrigens die Studienzahlen
> auch bei den Ingenieurwissenschaften wieder zu. Der Rückgang ist
> einfach zu erklären: bspw. liegt der Maschinenbau in Deutschland
> seit etwa 1990 darnieder; Chemiker bekamen ohne Promotion kaum
> einen Job, bei Informatikern gab's 1994/1995 einen
> Quasi-Einstellungsstop. Wen wundert's, wenn es _jetzt_ kaum
> Absolventen in diesen Fächern gibt? Das ist der alte
> Schweinezyklus.

Die von Heiko zitierte Studie sieht darüber hinaus langfristige
Rekrutierungsprobleme.  Technik ist zunehmend unattraktiv weil spröde und
fachiditiotisch und daher im heutigen schnellebigen Arbeitsmarkt auf Dauer
riskant.  Um das wettzumachen bedarf es einer besonderen
"Techniksozialisation", an der es wiederum fehlt, weil die entscheidende
Vater-Sohn-Beziehung in Zeiten brüchiger Familienbande besonders labil
ist.

All dies gilt wohlgemerkt nicht für die Informatik, die wiederum eher als
Zugangstor zu universal anwendbaren und weniger händebeschmutzenden
Fertigkeiten gesehen wird.

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SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT NOVEMBER 2000


Hauptursache für den Rückgang der Studienanfängerzahlen in natur- und
Ingenieurwissenschaftlichen Fächern ist ein Phänomen, das auf den
gesellschaftlichen Wandel zurückgeht: mangelnde "Techniksozialisation".

Von Michael M Zwick

Ganze Branchen suchen nach Ingenieuren und Naturwissenschaftlern, der
Arbeitsmarkt scheint leergefegt. Der Grund: Immer weniger Studierende
wählen natur- und ingenieurwissen schaftliche Fächer. In Baden-Württemberg
zum Beispiel nahm die Zahl der Studienanfänger in diesen Fachbereichen von
1994 bis 1998 im Durchschnitt um etwa 20 Prozent ab. Einige Fächer sind
ganz besonders betroffen: So sank die Zahl der Studienanfanger in den
Fächern Physik/Astronomie und Bauwesen um jeweils 32 Prozent, in Chemie um
30, in Mathematik um 24 und in Elektrotechnik um 21 Prozent. Zudem weisen
diese Fächer hohe Zahlen von Studienabbrechern und -wechslern auf. Dies
ergab eine Studie der Akademie für Technikfolgenabschätzung in
Baden-Württemberg.

Für diese Entwicklung ist ein ganzes Bündel von Ursachen verantwortlich.
Die Hälfte des allgemeinen Studentenschwundes ist zunächst eine Spätfolge
des seit Mitte der 60er Jahre ablaufenden Geburtenrückgangs. Warum aber
sind die meisten natur- und ingenieurwissenschaftli chen Fächer besonders
stark vom Rückgang der Studentenzahlen betroffen?

Interviews, die wir mit Oberstufenschülern und mit Studienanfängern der
Fächer Bauwesen, Chemie, Betriebswirtschaftslehre und Germanistik
durchführ ten, ergaben: Die Entscheidung zu Gunsten eines bestimmten
Studienfachs beruht insbesondere auf Begeisterung und Interesse für die
Materie. Hingegen werden die vermeintlichen Arbeitsmarkt- und
Karrierechancen kaum berücksichtigt - im Gegensatz zu der typischen
Situation vor einer Generation. Die jungen Leute haben wahrgenommen, dass
auf langfristige Arbeitsmarktprognosen und Karriereversprechen in der
heutigen schnelllebigen Zeit kein Verlass mehr ist und keiner weiß, wie
die Situation nach dem Examen sein wird. Nur allzu gut ist die
einschneidende Entlassungswelle bei den Ingenieuren zu Beginn der 90er
Jahre noch in Erinnerung - sie hat dem Image dieses Berufsfeldes
nachhaltig geschadet. Doch diejenigen, die sich für einen technischen oder
ingenieurwissenschaftlichen Studiengang entschieden, haben dies trotz
Wahrnehmung besonders schlechter Arbeitsmarktchancen getan! Dies lässt
vermu ten, dass auch umgekehrte Kampagnen der Industrie, wie die
gegenwärtige, fast panisch anmutende Suche nach Ingenieuren und
IT-Spezialisten, bei den jungen Menschen nur wenig fruchtet.

Was sollen die Studierwilligen aber tun, wenn der Arbeitsmarkt keine
rationale Berufswahl mehr zulässt? In den 80er Jahren hatte die Jugend auf
schlechte Arbeitsmarktchancen noch mit "'NO future" und depressivem
Kopf-Hängen-Lassen reagiert. Doch diese Zeiten sind passe: In der
Gesellschaft hat ein "postmaterialistischer Wertewandel" die Idee der
persönlichen Selbstverwirklichung ganz nach oben gespült. Zugleich
scheinen sich die jungen Menschen mit der Verkürzung- überschaubarer
Zeiträume und der wachsenden Unkalkulierbarkeit der Zukunft arrangiert zu
haben. Was heute zählt ist "Spaß": Studienfach und Beruf sollen
individuelle Neigungen und Interessen befriedigen, an persönliche
Erfahrungen und Kompetenzen anschließen, abwechslungsreich sein und
langfristig motivieren. Einkommens- und Karriereaussichten spielen nur
eine untergeordnete Rolle. Die Logikist,auf der Grundlage von Spaß und
Interesse eingerüttelt Maß an Kompetenzen zu erwerben und sich damit
optimistisch dem Arbeitsmarkt zu stellen, wie immer dieser auch aussehen
mag. Dabei setzen die jungen Leute auf eine möglichst breite, Disziplinen
überschreitende Ausbildung. Sie haben klar erkannt, dass mehr als nur
fachspezifisches Wissen gebraucht wird. Soziologisches Organisations- und
psychologisches Führungswissen sind ebenso gefragt wie EDV- und
betriebswirtschaftlicheKenntnisse. Im Umkehrschluss bedeutet dies dass all
jene Studiengänge, die auf Fach spezialistentum setzen für die jungen
Menschen künftig weniger attraktiv sein werden und mit nachlassender
Nachfrage rechnen müssen. Integrierte Studiengänge, wie etwa die technisch
orientierte Betriebswirtschaftslehre oder
Wirtschaftsingenieurwissenschaften liegen hingegen voll im Trend und
verzeichnen einen wahren Nachfrageboom. Allerdings sollte sich die
Industrie erklären, ob und in welchem Ausmaß Stellen für diese
Generationen zur Verfügung stehen werden Die oft zitierte
Technikfeindlichkeit spielt keine Rolle, im Gegenteil: Gerade für die
Jugend sind Autos und Mobiltelefone zu Prestigeobjekten geworden, der PC
hat sich zu einer kulturellen Selbst- verständlichkeit gemausert. Für ein
Tech- nikstudium braucht es indes mehr als nur Begeisterung für technische
Produkte und ihre Anwendung: Der schöpferische Zugang zu den
Gestaltungspotenzialen der unbelebten Natur kann nur durch Anleitung und
Einübung gewonnen werden. Für diese "Techniksozialisation" spielt das
Elternhaus eine entscheidende Rolle. Wie aus den Interviews hervorgeht,
sind es vor allem die Väter die ihre Söhne in die Welt der Technik
einfahren. Nur durch solch praktisches Lernen, spieleri-schen
Kompetenzgewinn und subjektive Erfolgserlebnisse kann wirkliche
Tech-nikbegeisterung entstehen.

Doch die Zeiten haben sich zum Nachteil einer frühen Techniksozialisation
gewandelt. Zum einen fordert die "vaterlose Gesellschaft" ihren Tribut:
Bundesweit wird mehr als jede dritte Ehe geschieden, in den Metropolen
beinahe jede zweite. Die noch verbleibenden männlichen Bezugspersonen
werden oftmals durch Karriereorientierung und Verdichtung der
Arbeitsanforderungen von den Familien fern gehalten. So wachsen heute
viele junge Menschen ohne Väter auf, die aber, wie das Datenmaterial
zeigt, für die Techniksozialisation eine entscheidende Rolle spielen. Auch
die Technik selbst hat sich stark gewandelt: Die Attraktivität moderner
Geräte beruht weniger auf sinnlich wahrnehmbarer Kühnheit ihrer
Konstruktion, sondern auf Spaß und Nutzen versprechenden Anwendungen. Ein
Paradebeispiel für die Abstraktheit heutiger Technik ist der PC. Da gibt
es nichts mehr zu basteln, zu tunen oder zu löten. Allenfalls einige
vorfabrizierte Module können eingebaut oder ausgetauscht werden. Die
Faszination des Computers geht fast ausschließlich von den Möglichkeiten
aus, welche die Software bietet. Da braucht es auch nicht zu verwun-dern,
dass das rückläufige Interesse an
technischenundingenieurwissenschaftlichen Studiengängen mit einer schier
überbordenden Nachfrage nach Informa tik einhergeht. An manchen
Universitäten wurde deshalb der Numerus clausus für dieses Fach
eingeführt. Wenn nun die IT-Branche über Nachwuchsmangel klagt, kann dies
nicht dem Studienwahlverhalten junger Leute zugerechnet werden. Hier
manifestieren sich vielmehr die Folgen des jahrelangen politischen
Sparkurses im Bildungsbereich und der nicht hinreichende Ausbau eines
sowohl von den Studierenden als auch von der Industrienachgefragten
Studienganges. Die Defizite in der Techniksozialisation setzen sich in der
Schule und der Universität fort. Ist Mathematik bei den Schülern noch
umstritten, so sind Chemie und Physik mit Abstand am unbeliebtesten - sie
gelten als erfahrungsfremd, theoretisch und als besonders schwer.
Offensichtlich liegt hier einiges mit der Didaktik im Argen. Damit das
Interesse der Schüler geweckt wird, müssen sie selbst experimentieren und
"spielen" können. Zur eigenen praktischen Erfahrung im Umgang mit
naturwissenschaftlichen Inhalten gibt es keine Alternative. Auch das
Leistungskurssystem, das den Schülern erlaubt, etwa "schwere" Fächer zu
Gunsten von "leichten" atzuwählen, um so eine bessere Abiturnote zu
erzielen, trägt nicht gerade zu einer Berufsfindung in den Ingenieur- und
Naturwissenschaften bei. Diejenigen jungen Leute, die sich schließlich
doch zum Studium in einem dieser Fächer entschlossen haben, stellen den
Hochschulen kein besonders gutes Zeugnis aus. Die von uns befragten
Studienanfänger übten unerwartet deutliche Kritik an der Universität im
Allgemeinen und den gewählten Studienfächern im Besonderen: In allen vier
untersuchten Studiengängen wurde die zum Teil schlechte Qualität von
Lehrveranstaltungen, Theorielastigkeit, organisatorisches Chaos und eine
unzureichende Betreuung durch die Dozenten beklagt. Bei den beiden natur-
und ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen stand jedoch die Kritik an
überzogenen Leistungsanforderungen und teilweise welt*emden Inhalten im
Vordergrund. Vor allem die Studienanfänger im Fach Chemie fühlen sich
durch die Leistungsanforderungen und Zeit raubenden Praktika regelrecht
"abgeschreckt". So wundert es wenig, wenn 54 Prozent von ihnen bereits in
den ersten beiden Semestern erwägen, das Fach zu wechseln oder das Studium
abzabrechen. Will man mehr erfolgreiche Hochschulabgänger, dann müssten
aus der Kritik der Studierenden wenigstens vier Konsequenzen gezogen
werden:

- Die Lehre (einschließlich der Betreu-ung der Studierenden durch die Dozenten)
ist aufzuwerten und zu verbessern;

- die Leistungsanforderungen sind an ein realistisches Maß anzupassen;

- organisatorische Klarheit und Uber-sichtlichkeit sind zu schaffen, und das
Informationsangebot für die Studieren-den ist zu verbessern;

- die Studieninhalte sind zu entrüm-peln, der Praxisbezug ist zu verbessern und
um fachübergreifende Qualifikatio-nen zu ergänzen.

Im freien Wettbewerb der angebotenen Studienfächer entscheidet die
Attraktivität der einzelnen Fächer über Fachwechsel und Abbruchquoten,
über den Zu und Abstrom von Studierenden und darüber, wie viele
Studierende mit Exa-men in den Arbeitsmarkt entlassen werden. Auch hierbei
spielt der "Spaßfaktor" eine wichtige Rolle: In Studiengängen, die als
überhart oder wenig interessant gelten, ist die Abwanderung der
Studierenden eine logische Folge.

Insgesamt wird deutlich, dass die rückläufige Attraktivität technischer
und ingenieurwissenschaftlicher Studienfächer und Berufsbilder ein
facettenreiches Phänomen ist, für das es keine einfachen Patentlösungen
geben kann. Sowohl der abgelaufene Wertewandel als auch der massive
Strukturwandel und die zunehmende Un-gewissheit über die Zukunft sind
unum-kehrbare Entwicklungen, die unsere Gesellschaft in den letzten
Jahrzehnten durchlaufen hat. Hinzu kommt, dass die Eigenlogik des Bildungs
und Ausbildungssystems und seiner Akteure einer kontinuierlichen
"naturwissenschaftlich-technischen" Sozialisation von Kindern und
Jugendlichen eher entgegenwirkt anstatt sie zu fördern.

Technisches Interesse und Technikbegeisterung jedoch sind nur zwei
Instrumente im großen Konzert interessanter Phänomene, Optionen und
Genüsse. Werden sie nicht frühzeitig erlernt und kontinuierlich gepflegt,
dann verlieren sie sich allzuleicht und treten hinter an-dere Interessen
und Motive zurück. Es wäre viel gewonnen, wenn all jene, die sich einen
Zuwachs an Technikern und Ingenieuren erhoffen, begriffen, dass auch
dieses Feld mittlerweile über Kon-kurrenzmechanismen geregelt wird.