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Re: Werthebach: wer blamiert sich?



> > > Was z.B. ein "eingebettet System" oder "embedded system" ist, bleibt
> > > dem Laien unabhängig von der Sprache zunächst verschlossen.
> >
> > Bei ersterem Begriff erkennt er darin immerhin "ein System, welches
> > durch allerlei besonderes Geschick dazu gebraucht wurde, innerhalb einer
> > groesseren ihm wesensfremden Struktur zu funktionieren, als waere es in
> > ihr zu Hause."  Damit weiss er schon fast alles.  Er kennt die abstrakte
> > Definition des Begriffes und muss sich nun nur noch mit bestimmten
> > konkreten Faellen auseinandersetzen.
>
> Genau das ist, aber nicht das, was ich unter "embedded system" verstehe.

Es kommt nur noch hinzu, dass diese "wesensfremde Struktur" etwa eine
Spielekonsole oder eine Fraesmaschine und das eingebettete System ein
Betriebssystem (d.h. System zum Betrieben ebendieser Maschine) sein
koennte.  Was man sich auch fast denken koennte.

Alles andere, was ein erfahrener Fachmann mit E.S. vielleicht noch
assoziiert, gehoert nicht zum Kern des Begriffs.

> > Z.B. moechte ich
> > ausdruecken, dass mein System nahtlos eingebettet ist oder dass ich das
> > bessere Einbettungskonzept habe.  Das alles geht mit "embedded" nicht, es
> > sei denn ich fuehre weitere englische Woerter und Satzteile ein.  Dann
> > greife ich aber wieder das an, was du den "Kern der Sprache" nanntest.
>
> Nein. IMO hat das nichts mit dem Kern zu tun, da hiermit etwas
> "Spezielles" benannt werden soll.

Nahtlose Einbettung usw ist vom Grundgedanken her nichts spezielles.
Auch konkrete (spezielle) Dinge ordnet man mithilfe abstrakter Konzepte
ein.  Die Benennung spiegelt die Einordnung wieder.  Ein gutes
Benennungssystem ist wie ein gutes Schubladensystem, welches mir und
anderen erlaubt, die Dinge zu finden.  Natuerlich gibt es irgendwo ganz
unten auch Identifikatoren, die sich niemand merken muss, wie z.B.
Aktennummern. Aber fuer Kategorienbezeichnungen verwendet man lieber etwas
leichter einpraegsames und intuitiveres.  Es sei denn man ist Bibliothekar
und moechte sich in seiner Abteilung unentbehrlich machen.

> In anderen Fachdisziplinen werden
> auch Worte aus anderen Sprachen (z.B. Latein) zur Begriffsbildung
> herangezogen und mit einer Bedeutung belegt, die über die Bedeutung
> in der Ursprungssprache hinausgehen oder sie verfremden.
> In der Philosophie werden sogar allgemein bekannte Wörter mit einer
> speziellen, definierten Bedeutung belegt, die erst gelernt werden
> muss, um entsprechende Texte verstehen zu können. Hier wäre es
> meiner Meinung nach einfacher, neue Worte - eventuell aus einer
> anderen Sprache - zu benutzen, um die spezielle Bedeutung zu
> hervorzuheben.

Ja. Wenn so ein Begriff eine Spezialbedeutung annimmt, braucht man
evtl neue Namen dafuer.    Z.B. im Patentrecht:

	direkte Naturkraefteanwendung (Technik)

Neue Namen zu schaffen, ist aber anstrengend.  Das scheuen die meisten
Leute.  Daher verfremden sie lieber Zeichen, die irgendwo schon benutzt
werden.

> > > Erst weiterführende Erklärungen machen den Begriff verständlich, da es
> > > sich um eine neue Vokabel handelt.
> >
> > > Eine mögliche Sicht wäre auch folgende: Liest man eine neue
> > > Bezeichnung bestehend aus wohl bekannten Worten, ist es eher so, dass
> > > man sofort eine Bedeutung assoziert, die evtl. falsch ist.
> >
> > Gut so.  Man lernt bekanntlich durch eine Folge von Irrtuemern und
> > Korrekturen.
>
> ACK. Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht ...
>
> >
> > > Der Begriff wird nicht hinterfragt, die intendierte Bedeutung bleibt
> > > verschlossen.
> >
> > Im Gegenteil.  Der Begriff wird hinterfragt, weil man naemlich nie vom
> > abstrakten Konzept auf die mit dessen Anwendung verbundene Erfahrung
> > schliessen kann.
> >
> > > Weiterer Vorteil: Wird der Begriff international benutzt, hat man ihn
> > > direkt für viele Sprache gelernt. Das ist effzient ... ;-)
> >
> > Sicherlich spart man sich etwas Muehe, wenn man nur einen einzigen
> > Wortschatz pflegt.  Genau das koennte ein Grund fuer die Sprachpfleger zu
> > sein, diesen Weg des geringsten Widerstandes etwas zu verbauen.   Denn die
> > Muehe ist letztlich gut investiert.  Langfristig fuer einen selbst und
> > fuer die Allgemeinheit.
>
> Da muss ich mal plumb fragen: Warum?

Weil man dann etwas zum Denken gezwungen wird und auf bessere Ideen kommt,
als sich beim blossen Nachplappern einstellen.  Weil die Faehigkeit der
Benennung/Wortpraegung trainiert wird, welche sowohl beim Einzelnen als
auch beim Worterzeugungssystem (Sprache) besser nicht einrosten sollte.

Wo kein produktives Worterzeugungssystem vorhanden ist, wird auch nicht
produktiv abstrakt gedacht.  Ein einzelner kann diese Beschraenkung zwar
immer ueberwinden, aber insgesamt wird unser Denken sehr stark von der
umgebenden Sprache genaehrt und geschult.  Diese Wirkung ist umso
staerker, als man sich ihrer nicht bewusst ist.

In manchen Voelkern ist abstraktes Denken weniger etabliert.  So etwa
neigen m.E. die Angelsachsen und Japaner weniger dazu als die Deutschen,
Franzosen oder Chinesen.  Solche Denkgewohnheiten finden auch ihren
Niederschlag in den Sprachen und wirken von dort wieder auf die Gewohnheit
zurueck.

> > Es ist ein haeufiges Missverstaendnis, zu meinen, eine Sprache werde durch
> > massenweise Aufsaugung von anderem Material staerker.  Das Englische saugt
> > heute fast nichts auf.  Es ist in einer Phase der Erholung und Erstarkung.
> > Frueher einmal war es sehr eklektisch und nahm zahllose ziemlich
> > ueberfluessige und schwierige franzoesische Ausdruecke auf:
> >
> >         sheep   mutton
> >         pig     pork
> >         ox,cow  beef
> >         calf    veal
>
> Das ist ein Ersetzen von vorhandenen Wörtern durch neue ohne das
> sich die Bedeutung ändert. Das halte ich im allgemeinen auch für
> kontraproduktiv.
> Oder haben die französichen Wörter im Englischen nicht doch eine
> andere Bedeutung als das englische Pendant?

Die Woerter in der rechten Spalte stehen fuer das Tier als Nahrungsquelle
des Menschen.

Der englische Wortschatz ist voll von solchen Asymetrien.  Die
vergleichsweise erfrischende Regelmaessigkeit gibt es nur auf der Ebene
der Flexionen.

Eine Asymetrie, welche die Patentrechts-Debatte erschwert, ist auch in der
Wortfamilie um "technical" zu sehen.  Das Wort "technical" sieht zwar so
aus, als waere es von einem Substantiv "technic" abgeleitet.  Dieses gibt
es aber nicht.  "technique" ist etwas ganz anderes.  "technology" ist die
Lehre (-ology) von diesem nicht existenten "technic".  Und wo im Deutschen
ohne weiteres "Technizitaet" abgeleitet werden kann, stoesst "technicity"
im Englischen auf Ablehnung, weil es sich dort einfach nicht gehoert, mit
der Sprache so produktiv umzugehen.  "Technicality" ist auch schon
festgelegt.

D.h. der vorhandene Wortschatz ist weitgehend eine Schrotthalde, und ich
muss staendig nach neuen Woertern suchen, ohne zu deren Ableitung
irgendwelche ausdruckskraeftigen Wortbildungsschemata zur Verfuegung zu
haben.  Eine Hochsprache bildet sich gegen allerlei Widerstaende wie z.B.
die Neigung zum Eklektizismus, den Unfaehigkeit zur Anwendung von Regeln,
die Einrostung dieser Regeln etc.  Es bilden sich auch neue Regeln, aber
die brauchen lange, um wirklich ein durchgaengiges, kompaktes System
darstellen zu koennen.  Bis das funktioniert, ist es meistens wieder halb
zugemuellt.  Eine einzige Sisyphus-Arbeit.

-phm