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Re: [FYI] Jugendschutz: Filterprogramme bringen es nicht



In schulung.lists.fitug-debate you write:
>Dass die Filtertechniken unzulaenglich sind, macht nichts, sie
>werden a) faktisch in allen Variationen eingesetzt und
>erfuellen b) tatsaechlich sogar ihre Funktion, naemlich den
>ebenso geheimen wie offensichtlichen gesellschaftlichen
>Moral-/Wertekanon, der den Druck auf Eltern und Lehrer als
>Funktionstraeger ausuebt, zu bestaetigen. Genau das besagt die
>Studie im Kern.

Verzeihung, aber die Situation ist wesentlich komplexer.
Zunaechst einmal bestaetigen Filter keinen Wertekanon. Filter
blenden Inhalte auf Grund formaler Kriterien aus. Das ist in
mehrfacher Hinsicht schaedlich:

- Formale Kriterien (URLs, URL-Pattern, Schluesselworte) zu
  nehmen, um moralische Bewertungen von Inhalten vorzunehmen
  funktioniert im allgemeinen nicht. Das Resultat ist
  Dysfunktion: Leute codieren ihre originale Message um das
  formale Sperrkriterium herum.

  Aktuelles Beispiel:
    http://slashdot.org/article.pl?sid=00/01/04/2134245&mode=nocomment
    "Playboy's Gillan has done a column on Linux."

    und

    http://slashdot.org/comments.pl?sid=00/01/04/2134245&cid=11
    "So I'm sitting here at work, and I reload Slashdot. Ooh!
     New article! Playboy article on Linux! I temporarily forget
     where I am and click through: BLOCKED BY SURFWATCH. I
     wonder if my supervisor's going to believe me when I say
     I was just trying to look at an article. :P"

    und

    http://slashdot.org/comments.pl?sid=00/01/04/2134245&cid=121
    "Try https://www.rewebber.de

     It is a free anonymous encrypted proxy with the option of
     URL encryption. I had to use it to read the playboy article
     because JANET (the sort of academic internet backbone of
     UK) even soft porn is illegal."

  Entstehung dysfunktionaler Strukturen life miterlebt: Die
  Sperrung erfuellt keinen erkennbaren Nutzen. In einem Fall
  hindert sie sogar einen Akademiker an der Rezeption von
  Quellen, die mehr oder weniger zu seiner Arbeit passen.

  Die Sperrung hat keine erkennbare Wirkung: Sie ist durch
  einen der zahllosen Proxies und Rewebber leicht zu unterlaufen
  und das Unterlaufen der Sperre kann nicht wirksam verhindert
  werden (siehe auch
  http://www.koehntopp.de/kris/artikel/rating_does_not_work:
  "E-commerce and ICR&S are natural adversaries"), weil
  generische, verschluesselte Ende-zu-Ende Kommunikation im
  jedem E-Commerce-faehigen Environment Pflicht ist. 

  Der Umweg um eine solche Sperre ist automatisierbar. Die
  Performance ist noch (!) nicht in jedem Falle ausreichend,
  wird aber laufend besser.

  Hier entsteht ein Ruestungswettlauf, den die Filterer nicht
  gewinnen koennen (warum das so ist: siehe unten).

- Etwas zu sperren, macht keine paedagogisch sinnvolle Aussage
  ueber eine Moral. Es verdraengt ein Thema, aber es bewertet
  nicht. 

  Entweder man gibt zu, dass die heutige Welt nicht geeignet
  ist, um Kinder aufzuziehen. Dann laesst man das mit den
  Kindern sein - diese Entscheidung ist seit gut 40 Jahren ja
  moeglich. Oder man akzeptiert ohne zu Bejahen: Ja, so etwas
  gibt es. Nein, wir machen so etwas nicht, denn es ist Boese,
  weil... <-- Das "weil" hier ist die Moderne.

  Etwas zu sperren codiert die Aussage "Wir reden da nicht
  drueber. Wir aechten so etwas offiziell, aber als Erwachsene,
  ohne die Sperren, sehen wir uns dann doch an.". Das ist
  codierte Doppelmoral.

- "Klar", sagt der Soziologe in Dir, "das ist ja das 'geheime'
  an so einem Wertekatalog." "Bloed", sagt Dir dann der
  Techniker in mir, "denn solange etwas manuell von einer
  Gesellschaft praktiziert wird, ist das vielleicht noch okay.
  Wenn es aber in Code gegossen wird, also /industriealisiert/
  wird, dann hat man hier ein Gebiet gesellschaftlicher Werte
  und Strukturen, das dem Diskurs entzogen wird, 'nicht
  revisionsfaehig ist', wie die Datenschuetzer sagen wuerden."

  Und wohin solche Schattenstrukturen fuehren kannst Du gerade
  jetzt ja mal die CDU fragen. Oder die angelsaechsischen
  Kulturen. Die bauen so etwas ja auch sehr gerne in alle
  moeglichen Bereiche ihrer Gesellschaft ein.

v>Und den Juristen muss gesagt werden: Findet nun langsam mal
>eine ueberzeugende Form, die diese Konfliktsituation und
>"logische" Inkonsistenz handlebar macht, weil es nicht darum
>gehen kann, den naheliegenden Anspruch zu verfolgen, diese
>Inkonsistenz letztlich doch irgendwie aufzuloesen. Genau das
>geht ja eben nicht.

Einen Sperrmechanismus zu haben, der irgendwas sperrt, aber
nicht wirksam und nicht geeignet ist, das zu sperren, was
gesperrt werden soll, ist nicht rechtmaessig. Andererseits zu
versprechen, dass ein Netz mit einem Filter, der es nicht bringt
und prinzipbedingt nicht bringend kann, jugendfrei sei ist
ebenfalls ein juristisches Minenfeld.

Alles was so ein Filter generiert ist also Rechtsunsicherheit
und Verwirrung fuer alle Beteiligten. Du beschreibst die eine
Alternative ja recht gut: Funktionsverlust des Netzes, Abbau von
Buergerrechten zum Zwecke der Konstruktion von "sauberen"
Netzinseln. Die andere Alternative ist einfach technisch nicht
loesen zu wollen, was im Grunde genommen kein technisches
Problem ist.

>oekonomisch referenzieren. Familien und Schulen koennen ueber
>leidlich konsistente Verbote operieren, die moderne Welt-Gesellschaft
>kann sich einen derart primitiven Modus der Handhabung nicht erlauben.

Der von mir oben herausgestellte Punkt "E-Commerce and Filterung
sind grundlegend inkompatibel" aus dem "Rating does not
work"-Paper ist der zentrale Punkt an dieser Stelle. E-Commerce
erzeugt hier ein Szenario, das keine Kompromisse mehr zulaesst:
Wir haben massenhaft individuelle Sender-Empfaenger Ende-zu-Ende
Kommunikation, die stark verschluesselt, auf Wunsch
authentisiert und unter Umstaenden noch kryptographisch hart
anonymisiert ist und Inhalte individuell erzeugt. 

Das ist kommunikationstheoretisch ein "perfekter"
Kommunikationskanal, in dem Sinne, dass Sender und Empfaenger
alle Aspekte ihres Kommunikationsmodus frei entscheiden koennen:
Sie koennen die Inhalte frei bestimmen und sie koennen sich
entscheiden, diese Inhalte gegenueber Dritten zu verheimlichen.
Sie koennen ihre Verbindungsdaten frei bestimmen und sie koennen
sich entscheiden, diese Verbindungsdaten gegenueber Dritten oder
gegenueber dem jeweils anderen geheim zu halten. Sie koennen
sich aber auch vertrauenswuerdiger Dritter bedienen, um sich
ihre jeweilige Identitaet gegenseitig zu bestaetigen, obwohl
sich beide nie gesehen haben oder sehen werden. Und diese
Kommunikationsmodi stehen jederzeit, jedermensch in den
ueblichen Bandbreiten und ohne grossen Aufwand oder Voranmeldung
zur Verfuegung.

Wenn sich die Kommunikationspartner hier entscheiden, in diesem
Fall oder gar routinemaessig Dritte aus ihrer Kommunikation
auszuschliessen, dann entfaellt jede Eingriffsmoeglichkeit
Dritter in diese Kommunikation.

Filtern ist nun aber der institutionalisierte Eingriff in die
Kommunikation durch Dritte. Es ist eine formalisierte
Man-in-the-Middle Attack, bei der Inhalte abgehoert ("sex"
enthalten?) und durch andere Inhalte ("Diese Seite ist
gesperrt") ersetzt werden. 

Filter zu wollen, heisst, E-Commerce unmoeglich zu machen.
Oder politische Information. Oder Abstimmungen ueber das Netz.
Oder jede andere ernsthafte Anwendung des Netzes.

Das ist natuerlich vollkommen unakzeptabel. Also bleibt nur die
andere Alternative: Ehrlichkeit. Akzeptieren ohne zu Bejahen.
Das erzeugt sowieso die lebenswertere Welt.

Kristian