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Re: [FYI] Jugendschutz: Filterprogramme bringen es nicht



Holger Veit schrieb:

>> Selbstverstaendlich bestaetigen Filter einen Teil des faktisch
>> geltenden gesellschaftlichen Wertekanons: Filter machen explizit, was
>
>Wessen Wertekanons? Denjenigen irgendeiner Subkultur wie z.B. der 
>Kirchen vielleicht, aber nicht denjenigen *der Gesellschaft*. Denn die

Kirchen, Sportvereine, Jugendzeitungen, Musiksender und Popstars, ...
sind Teile von Gesellschaft. Es gibt eine Menge nicht festgestellter,
impliziter Werte, die diese verschiedenen Institutionen ("als
westliche") teilen, wenn man sie denn feststellen wollte. Und diese
uebergeifenden, kaum fassbaren, aber sehr wohl existenten Werte
kristallisieren zuletzt in den Filtern aus. Beispielsweise die
Vorstellung, dass Kinder (oder auch alte Menschen) keinen Sex haben
wollen/ koennen/ duerfen. Es gibt hinreichend viele
kulturvergleichende Studien, die das Gegenteil belegten.

>> Der Wertekanon kann einzig aufgrund seiner Nicht-Festgelegtheit
>> kontrafaktisch zumindest noch leidlich in einer nicht mehr
>> hierarchisch geordneten Gesellschaft wirksam sein. Der Einsatz von
>> Filtern beschwoert deshalb die Konflikte erst herauf, zu deren
>> Bannung sie eigentlich eingesetzt werden.
>
>In einer solchen Gesellschaft existiert ueberhaupt kein vereinbarer
>Wertekanon mehr; das ist nur mehr die Machtphantasie einiger 
>konservativer Fanatikersubgruppen, die Zahnpasta zurueck in die
>Tube zu druecken.

Holger, es ist komplizierter: Doch es gibt so einen Kanon. Nur, jeder
der diesen explizieren wollte, rennt in das Dilemma, das dieser dann
kaum mehr wirkte - es muss, anders als Gesetze, unter den gegebenen
komplizierten gesellschaftlichen Verhaeltnissen geradezu im Dunkel
bleiben, man darf ihn nicht festzurren, will man ihn nicht gefaehrden
(analog zur alten Dampfmaschine, die uebern Jordan ginge, zoege man
die Schrauben wie spezifiziert zu). Durch den Einsatz der Filter wird
aber genau das gemacht: festgezurrt.

>> sondern erzeugt es. Es sind bspw. die verknoechert-autoritaeren
>> Lehrer, an denen Schueler besonders gut selbstgewaehlte
>> Urteilsfaehigkeit lernen.
>
>Nein, das zweifle ich an. Wo ein Vergleichsmasstab fehlt, wird
>nicht mehr hinterfragt. Bekanntes Beispiel: wir erwarten bei einem

In einer pluralen Gesellschaft fehlt es an einem nicht: an 
Vergleichsmasstaeben. 

>> hingewiesen: erziehen zum sich nicht erziehen lassen. Die gleiche
>> Paradoxie gilt fuer "den Buerger in Uniform" in der Bundeswehr oder
>> fuer den muendigen Buerger in einem Rechtsstaat. Deshalb sind
>> Jugendschutz und Buergerschutz strukturell verwandte Themen). Wo
>
>Der Buerger in Uniform ist ein Mythos, ein Placebo. Maechtige Gruppen,

Der Buerger in Uniform ist zunaechst einmal, wenn eine Armee denn als
notwendig erachtet wird, ein hoechst begruessenswertes Gegenkonzept
zum bis dahin geltenden Konzept des Soldatenschweins als trivialem
Befehlsempfaenger (von Guerilla-Kaempfern abgesehen). Aber dieses
Konzept ist nur, typisch fuer die Moderne, in Form einer Paradoxie zu
haben, weil ein Soldat einer industriealisierten Armee letzlich doch
nur als Befehlsempfaenger funktionieren kann, wenn es heisst: "Los,
geh jetzt sterben!". Logisch ist das Konzept selbstverstaendlich
nicht dicht zu kriegen, aber auch das macht nichts. Wenn dieses ueberaus
moderne Konzept der inneren Fuehrung einer Armee aufgegeben wuerde,
wuerde viel aufgegeben. Es ginge vermutlich aber auch gar nicht mehr
anders.

>etwa die Politik und die Konsum- und Medienindustrie sind bestrebt,
>den allzu selbstaendigen Menschen sich erst gar nicht entwickeln zu
>lassen. Selbstaendigkeit nur soweit, wie es um das Eintippen der
>EC-PIN an der Kasse geht.

Konsum- und Medienindustrie muessen Geld verdienen. Menschen, ob
selbstaendig oder nicht, sind ihnen (wem eigentlich genau?)
vollkommen gleichgueltig. Man MUSS heute selbstaendig sein, um zu
ueberleben, weil keiner mehr auch nur noch ein bischen an die Hand
genommen wird (mit Ausnahme von (intimen) Freunden - das sie das tun,
ist deren Definitionsmerkmal).

>> Jugend ist ein Konzept, das moderne Industriegesellschaften
>> entwickelt haben, weil die Ansprueche an die Gesellschaftsmitglieder
>
>Nach Postman ist das Konzept der Kindheit und Jugend (im Gegensatz
>zum kleinen Erwachsenen) noch gar nicht so alt, und bereits jetzt
>wieder in Aufloesung begriffen.

Eben. Genau das steht fast woertlich in der Studie, wenn auch ohne
Bezug auf Postman. 

>> Sowohl-als-auch-Mix. Das ist laestig, und zugleich Bedingung dafuer,
>> die Freiheit zu haben, unter Alternativen waehlen zu muessen.
>
>Wollen *wir* diesen Mix? Wer ist in diesem Zusammenhang "wir"? Und
>wenn wir den Mix wollen, wer sind dann *die*, die Filtern propagieren?

"Wir" ist eine Gemeinschaftskategorie, die zur Gesellschaftsanalyse
unbrauchbar ist. Und der Hauptbegriff aus dem Repertoire des
kulturpessimistisch-essayistischen Plauderers, der sich oeffentlich
in bloss nachhakenden Kritiksimulationen uebt. "Die Anderen" dient im
uebrigen als das zu ergaenzende Pendant dazu. Aus der Differenz
Wir/Die-Anderen speist sich ein gemeinschaftlich oerientierer
Nationalismus. Wir-Speak ist analytisch laengst unbrauchbar. Zweiter
Kinken: Wille referenziert auf einen Mentalzustand eines Menschen
(also nicht einmal einer Gemeinschaft von Menschen, ist also noch
weiter von Gesellschaft entfernt), der seinerseits hoechst
problematisch ist, weil man kaum wissen kann, ob man wirklich je fuer
sich will oder ob etwas durch einen hindurch will, so dass man quasi
als Wirtstier fungiert, das nur glaubt, autonom zu sein. Die Frage
"Wollen wir den Mix?" setzt deshalb auf ein vollkommen falsches
Gleis. Gehobener Stammtisch-Speak.

Die, die die Filter propagieren, sind Funktionstraeger der
Sozialsysteme, in denen sie sich bewegen. Lehrern muss was einfallen,
wenn sie sehen, dass ihre Schueler beim Websurfen bevorzugt
Pornosites anlaufen. Moegen alle sich einig sein, dass ihnen keine
anderen Bilder im Web einen solchen Spass bringen und die Fantasie
anheizen. Der Rektor oder irgendwelche Eltern werden einem solchen
Lehrer schlicht ein ueberaus laestiges Verfahren anhaengen. Und wenn
nicht dem Lehrer, dann dem Rektor. Und wenn nicht dem Rektor der
Schulaufsichtsbehoerde.

>> Der Soziologe sagt zunaechst einmal: Es brechen spannende Zeiten an,
>> weil die Konflikte, die durch den Einsatz von Filtern gebannt werden
>> sollten, ueberhaupt erst erzeugt werden. Es kommen somit Themen auf
>> den Tisch, die bislang stillgelegt waren und lieber nicht angefasst
>> wurden (wie auch in anderen Bereichen der Netznutzung, siehe:
>
>...aber, cui bono? Doch sicher nicht, dass der Soziologe auf der Galerie
>seine private Reality-TV-Show mit Spannung und Nervenkitzel
>geniessen kann, oder?

Cui bono ist nur eine der moeglichen Fragen, die man stellen kann.
Und sie zaehlt zudem zu den langweiligeren, weil sie nur auf die
Konstellation zwischen Maechtigen und der sofort zur Stelle seienden
Opposition zielt. Und: Na klar, zu einem Teil geniesst der Soziologe
Reality-TV (allerdings nicht von der sicheren Gallerie aus, die gibt
es nicht mehr). So wie ein Biologe seinen Fischteich, ein
Programmierer sein Programm geniesst. Zu einem anderen Teil mag er
sich engagieren, sysiphoshaft - wissend, das es zugleich weitgehend
gleichgueltig ist, was er wie macht, angesichts der 6 Milliarden
anderen Mentalsysteme, denen es kaum anders geht. Anders als die
landlaeufige Meinung sind Soziologen nicht von Haus aus dazu
verdonnert, die Welt zu verbessern - das ist eher der Job von
Politikern und Technikern. Er weidet sich gegenwaertig allerdings
vermutlich weniger am Untergang, wie die Existentialisten der 60er
Jahre, stattdessen faengt er immer wieder an, lachend. Es ist
aussichtslos, dauerhaft Negentropie herstellen zu wollen in einer
inkonsistenten Umgebung. Das ist die Crux und zugleich das Wunderbare
an technisch Sozialisierten: Sie glauben permanent an die
Moeglichkeit zur Konsistenz. (Sie sollten sich in diesem Punkt von
den Philosophen auch nicht bequatschen lassen.)

>Ich sehe nicht nur technischen Fundamentalismus, sondern generellen
>Fundamentalismus auf allen Ebenen und in allen Schichten, weil genau
>der fruehere Wertekanon durch die Individualisierung und Globalisierung
>der Gesellschaft zersplittert wurde und jetzt als ein Haufen inkompatibler
>und inkonsistenter Puzzlestuecke herumliegt. Wenn wir als Individuum
>uns ein Weltbild bauen wollen, kein Problem: die gibt es jetzt an
>jeder Ecke, in allen Farben, Groessen und Formen. Und das ist genau
>mein Problem als Individuum.

Ja. Die Weltbilder werden in dem Masse, wie sie poroes sind,
verteidigt - und sei es zu bekunden, man habe keines. Deshalb ist es
auch alles andere als laenger noch individuell, individuell sein zu
wollen. Individuell sein zu muessen, ist vielleicht das Massenphaenomen
schlechthin. (Ich glaube, das schrieb ich hier schon mal.)

>Ich befuerchte eher, s.o. einen fundamentalen Trend "zurueck zur Natur", 
>oder was irgendeine Art Hitleranalogon als solches plausibel versprechen
>kann. Der Begriff ist vielleicht "Moderne", das Gedankengut ist aber, wie
>fast alles in der Philosophie, bereits jahrhundertelang angedacht. Die
>Spirale ist nur eine Windung weiter.

Da bin ich optimistischer. Ausgerechnet in Deutschland haetten
Fundamentalisten meiner Ansicht nach derzeit geringe Aussichten. Auch
vom sicher als besonders verfuehrerisch einzustufenden
Oekofundamentalismus erwarte ich nur geringe Gefahren, allein wenn
man sieht, in welchem Ausmass derzeit ueber die angehobenen
Benzinpreise genoergelt wird. Auch die breite Aufregung ueber den
Modus des Kohlschen Einkaufs von Gefolgschaft zeigt, dass genau keine
antidemokratische Verhaeltnisse vorherrschen.

Gruss, Martin
-- 
Martin Rost - http://www.netzservice.de/Home/maro/ - Germany, Kiel