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Re: [FYI] Jugendschutz: Filterprogramme bringen es nicht



In schulung.lists.fitug-debate you write:
>Selbstverstaendlich bestaetigen Filter einen Teil des faktisch
>geltenden gesellschaftlichen Wertekanons:

Dies ist die Postmoderne. Es gibt faktisch keinen "geltenden
gesellschaftlichen Wertekanon", sondern es gibt nur die
Wertvorstellungen einer sehr grossen Anzahl gesellschaftlicher
Gruppen, von denen einige wenige jetzt versuchen, ihre eigenen
Vorstellungen als gesellschaftsweit gueltigen Minimalkonsenz zu
etablieren, indem sie die Inhalte der Filterkataloge definieren.
Soweit nichts grundsaetzlich Neues.

Neu ist, dass durch die Schaffung und Durchsetzung einer
Filterinfrastruktur versucht wird, den Diskurs ueber diese Werte
selbst zu verunmoeglichen. Wer man annimmt, dass Filter wirksam
sind und nicht nur ein Witz, der muss zu dem Schluss kommen,
dass wer die Filter kontrolliert die gesellschaftliche Agenda
bestimmt. 

Dies wird recht deutlich /allen/ bisher untersuchten
Filtertechnologien und Filterlisten: Alle nennenswerten
Kategoriensysteme behandeln ihre Filterlisten und Bewertungen
als Geheimnis. Dies geschieht unter dem Vorwand, dass man
verhindern moechte, dass diese Filterlisten invertiert werden
koennen sollen, also als Katalog und Suchmaschine fuer negativ
bewertete Inhalte verwendet werden sollen. 

Folgerichtig sind diese Kataloge auf die eine oder andere Weise
"geknackt" und gegen den Willen der Betreiber offengelegt worden
(und ebenso folgerichtig versucht neuere Gesetzgebung zum Schutz
von Datenbanken, dies illegal zu machen). Eine genauere
Untersuchung zeigte, dass in nahezu allen diesen Katalogen
kritische Metadiskussion ueber Filtertechnologien gesperrt
wurde...

Folgerichtig beinhaltet auch /keines/ der bisher untersuchten
Filtersysteme eine Moeglichkeit, mit dem der Bewertete von dem
Ergebnis der Bewertung erfaehrt und keines der untersuchten
Filtersysteme hat einen Mechanismus zur Regelung von
Konfliktfaellen, in denen der Bewertete einer Bewertung
widersprechen moechte. 

Filtersysteme sind Mittel kein Mittel zur Vermittlung eines
Wertekanons, sondern ein Mittel zur Sabotage des
gesellschaftlichen Diskurses ueber Werte. Der Antidiskurs. Das
befoerdert natuerlich auch ein gewisses Weltbild mit daran
haengenden Werten, aber eines, dass sich ausserhalb unserer
Gesellschaft stellt. Hoffe ich.

>Der Einsatz von Filtern beschwoert deshalb die Konflikte erst
>herauf, zu deren Bannung sie eigentlich eingesetzt werden.

"Filter schaffen also Probleme, die wir ohne sie nicht haetten."
Aeh, ja. Das ist wohl richtig.

>>  Hier entsteht ein Ruestungswettlauf, den die Filterer nicht
>>  gewinnen koennen (warum das so ist: siehe unten).

>Darf ich Deine Ausfuehrungen bis hier so zusammenfassen: Der Einsatz
>von Filtern ist technisch unzulaenglich?

Das ist die halbe Message. Die andere Haelfte ist: Diese
technische Unzulaenglichkeit ist kein Zufall. Sie ist die
direkte Folge der Erkenntniss, die ich dann noch einmal
verdonnerhackt habe: Wuerden Filter funktionieren, braeuchten
wir die Rezipienten nicht mehr. Denn in dem Moment, indem Filter
soviel Verstaendnis von den gefilterten Inhalten haben, dass sie
die Bewertung korrekt vornehmen koennen, kann dieser Filter auch
jeden beliebigen Turingtest bestehen...

Wer Filter propagiert und behauptet, sie wuerden zuverlaessig
funktionieren, der propagiert eine Moral, die sich auf formale
Kriterien reduzieren laesst ("In dem Text kommt 'sex' vor.", "In
dem Image sind mehr als 50% der Pixel fleischfarben.", "Alle
Artikel auf http://www.playboy.com sind Schweinkram.") und
versucht, diese Moral als eine Art "kategorischen Imperativ in
Software" auf allen Rechnern der Republik zu installieren. Das
ist so offensichtlich untauglich, dass man weder eine Studie
noch Soziologen oder Techniker braucht, um das zu erkennen.
Falls man das moechte...

>Ganz im Gegenteil: Etwas zu sperren, verdraengt nicht das Thema,
>sondern erzeugt es. Es sind bspw. die verknoechert-autoritaeren
>Lehrer, an denen Schueler besonders gut selbstgewaehlte
>Urteilsfaehigkeit lernen.

"Filter, die Dich bei Deinen Hausaufgaben behindern sind gut
fuer Dich, denn sie bilden Deinen Character." Das ist ein Satz,
der direkt aus einem Calvin & Hobbes Comic kommen koennte
(Calvins Vater zu Calvin, als es auf einen verregneten
Campingurlaub geht...).

>Damit E-Commerce funktioniert, muss
>eine unglaubliche Infrastruktur durch die nicht vordergruendig
>wirkende Nummer 3 aufgebracht werden. Nur damit in einem ganz
>winzigen punktuellen Ereignis dann tatsaechlich mal eine
>bidirektionale, unbeobachtete Interaktion zustandekommt.
>[ Exkurs Micropayments ]

Ja und? Der Trick ist, dass es sich um eine Infrastruktur
handelt, d.h. die ganze Apparatur wird nicht fuer die
Transaktion zwischen 1 und 2 aufgestellt, sondern sie ist da und
idlet vor sich hin, bis 1 und 2 auf die Idee kommen, sich
miteinander zu beschaeftigen. Sie idlet natuerlich nicht,
sondern brummt bei ca. 80% Auslastung, weil es jede Menge 1 und
2 gibt, die sie zu jedem Zeitpunkt nutzen, aber wer 1 und 2
sind, das interessiert 3 eigentlich zu keinem Zeitpunkt. Und das
ist zugleich der Zeitpunkt, an dem die Kontrolle erlischt. Schon
wegen der Masse.

Das zu verstehen und in seinen Auswirkungen zu begreifen ist
sehr schwer, denn ist viel weitreichender und unglaublicher als
es sich in so trocken Worten formulieren laesst. Negropunkte und
Kollegen machen da mit dem notwendigen Pathos "das Verschwinden
von Zeit und Raum im Cyberspace" draus, und letztendlich ist es
genau das, auch wenn es abgeschmackt klingt.

>>Filter zu wollen, heisst, E-Commerce unmoeglich zu machen.

>Nein, das muss es nicht heissen. Es mag eine politisch/ juristische
>Form des Content-Filterns und eine oekonomische Form des Bezahlens
>gefunden werden. Beides zusammen geht nicht konsistent, das ist klar,
>sondern unterliegt Risikoabwaegungen. Nichts anderes ist Gesellschaft
>als viele gefundene Workarounds fuer zeitweise stillgelegte
>Konflikte.

Das ist dieselbe Denkweise, die auch die Kryptoregulierer mit in
die Debatte gebracht haben, naemlich die Idee, dass Du in
irgendeiner Form eine Wahl haettest. Du, Soziologe und
Revolutionaer, unterschaetzt hier die struktur-redefinierende
(von Wandlung kann kaum noch eine Rede sein) Macht der Technik,
genau wie Kanther dies tat. Content-Filter koennen genau wie
Kryptoregulierung funktionieren, wenn Sender und Empfaenger mit
dem Filternden (Kryptoregulierenden) kooperieren. Das ist in der
Regel und insbesondere in allen interessanten Faellen nicht der
Fall, denn letztendlich brauchst Du bei den Kooperativen nichts
zu filtern (bzw. keine offengelegten Schluessel von denen). 

Die Frage ist letztendlich nicht, "Wie kann man Jugendschutz im
Internet implementieren", sondern "Wie viel Zeit habe ich noch,
mir was anderes einfallen zu lassen?". Denn die Filter gehoeren
letztendlich in dieselbe Kategorie wie Videokonferenzen von
Vorlesungen.

Was den Staat in der Mitte aller dieser Transaktionen angeht:
Das Problem der verlaesslichen Steuererhebung bei Ecommerce,
insbesondere bei nichtstofflichen Waren, ist auf Grund des
Steuermoratoriums auch noch vertagt und vollstaendig ungeloest.
Das Problem der verlaesslichen Definition von Waehrung und Wert
hat sich noch nicht einmal am Horizont abgezeichnet, kommt aber
gleich als naechstes (Lutz hat da ja schon mal drueber
nachgedacht).

Kristian