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Re: [FYI] Jugendschutz: Filterprogramme bringen es nicht



Kristian Koehntopp schrieb:
>...
>Filtersysteme sind Mittel kein Mittel zur Vermittlung eines
>Wertekanons, sondern ein Mittel zur Sabotage des
>gesellschaftlichen Diskurses ueber Werte. Der Antidiskurs. Das
>befoerdert natuerlich auch ein gewisses Weltbild mit daran
>haengenden Werten, aber eines, dass sich ausserhalb unserer
>Gesellschaft stellt. Hoffe ich.

Das ist alles zu eindimensional. Diskurse werden vordergruendig auf
einer Ebene durch Filter erschwert bis verunmoeglicht, ok. Da Filter
aber nichts taugen, finden die Diskurse auf der gleichen Ebene
trotzdem, und dann sogar noch schaerfer als jetzt statt - wenn
vielleicht auch nicht von den selben Leuten der gleichen Ebene
gefuehrt, sondern von engagierten Leuten u. U. in einem anderen Land,
aber das ist nichts Neues und ein anderes Problem. Darueberhinaus ist
der Filtereinsatz undemokratisch (sofern ueber dessen Einsatz keine
Abstimmungen erfolgen), vormodern und rechtlich problematisch, was in
westlichen Demokratien weitere spezialisierte Diskursteilnehmer auf
den Plan ruft. (BTW: Wie wuerdest Du das, was hier gerade ablaeuft,
bezeichnen?) Der Bedarf an punktuell erzielbarer Klarheit und
persoenlicher Rechtsicherheit durch den Einsatz von Filtern, fuer die
es sozialpsychologisch ganz gut erklaerbar eine enorme Motivation
gibt, geht nach kurzer Zeit selbstverstaendlich wieder verloren. Und
es nehmen die Konservativen, die sich etwas von Filtern versprochen
haben, spaetestens dann wahr, dass sie sich nunmehr tatsaechlich in
einer anderen neuen Welt befinden. (Das ganze wohlfeile Gebrabbel von
Globalitaet und dramatischem Wandel durch Kommunikationstechnik auf
den Feuilleton-Seiten verdankt sich nach meinem Eindruck keinem
analytischen Anspruch wie hier, sondern dem Impuls, durch magische
Formeln das Bedrohliche letztlich doch irgendwie zu bannen und weiter
wie bisher machen zu koennen.)

Noch was: Bitte zwischen Werten und Moral unterscheiden. Was man zu
Recht meiner Ansicht nach behaupten kann ist, dass man
Gesellschaftmitglieder auf keine gesellschaftsweit einheitlich Moral
(also auf die Unterscheidung von gut und boese) mehr verpflichten
kann. Werte sind abstrakter und weniger systematisch als ein
Moralkanon. 

>Das ist die halbe Message. Die andere Haelfte ist: Diese
>technische Unzulaenglichkeit ist kein Zufall. Sie ist die
>direkte Folge der Erkenntniss, die ich dann noch einmal
>verdonnerhackt habe: Wuerden Filter funktionieren, braeuchten
>wir die Rezipienten nicht mehr. Denn in dem Moment, indem Filter
>soviel Verstaendnis von den gefilterten Inhalten haben, dass sie
>die Bewertung korrekt vornehmen koennen, kann dieser Filter auch
>jeden beliebigen Turingtest bestehen...

Das waere vielleicht dann ein Argument, wenn derart intelligenten
Filtern auch die Buergerrechte zugesprochen bekaemen. Das halte ich,
Lem hin und her, fuer eher unwahrscheinlich.

>Wer Filter propagiert und behauptet, sie wuerden zuverlaessig
>funktionieren, der propagiert eine Moral, die sich auf formale
>Kriterien reduzieren laesst ("In dem Text kommt 'sex' vor.", "In
>dem Image sind mehr als 50% der Pixel fleischfarben.", "Alle
>Artikel auf http://www.playboy.com sind Schweinkram.") und
>versucht, diese Moral als eine Art "kategorischen Imperativ in
>Software" auf allen Rechnern der Republik zu installieren. Das
>ist so offensichtlich untauglich, dass man weder eine Studie
>noch Soziologen oder Techniker braucht, um das zu erkennen.
>Falls man das moechte...

Eine noch nicht verunsicherte Moral und formale Kriterien sind aufs
beste miteinander vereinbar, Moralisten begriffen das ueberhaupt
nicht als nichtakzeptierbare Reduktion. Moral einfacher
Gesellschaften ist extrem mechanistisch/ systematisch angelegt. Man
kann mit ihnen eindeutig nach gut und boese unterscheiden - Moral
MUSS primitivst, also moeglichst formal, angelegt sein. (Der Fremde
ist bspw. schon allein deshalb boese, weil er grundsaetzlich einen
konsistenzgefaehrdenden Moralupdate erforderlich machen koennte.)
Insofern schliessen Moral und formale Kriterien einander nicht aus,
ganz im Gegenteil, sie bestaerken einander gegenseitig. Wenn Sex im
String, dann boese, exit. Beide sind Versuche, Konsistenz 
herzustellen.

Lustig wirds erst, wenn in komplizierteren sozialen Verhaeltnissen
(historisch gesehen oder soziologisch als Verlassen der Familie)
neben Moral auch Ethik entwickelt wird und Moral somit reflexiv
befragt wird: Was ist eigentlich gut am Guten und boese am Boesen?
Gibt es vielleicht etwas Boeses am Guten oder etwas Gutes am Boesen?
Allein moralisch sind solche Fragen nicht zugelassen, Totenkopf,
boese. Doch sie stellen sich zwangslaeufig, wenn der Blick in die
Welt geht (Kaufmann, Jugendlicher) und man nicht umhin kann, dann
womoeglich sogar regelrecht everkehrte Welten wahrzunehmen. Mit der
Reflexion geht die einfache Bestimmtheit, die befriedigende
Systematizitaet von Moral verloren. Rueckkopplung, das System knallt
erst einmal weg und es wird aufwendig, den neuen optimalen
Arbeitspunkt zu finden. Von nun an werden die Koepfe hin und her
gewogen. Richtig knackig wirds, wenn dann noch mal auf Ethik mit
positivem Recht draufgesattelt und Legitimation qua Verfahren erzeugt
wird und Rechtsaetze durch Rechtsaetze reproduziert werden, und nicht
durch Kontext-Importe a la Gutsherr, der die Allmacht in allen
relevanten Dingen der Welt innehat (Hallo Patrick, auch hier wieder
ausgebildete Selbstreferenz).

>>Nein, das muss es nicht heissen. Es mag eine politisch/ juristische
>>Form des Content-Filterns und eine oekonomische Form des Bezahlens
>>gefunden werden. Beides zusammen geht nicht konsistent, das ist klar,
>>sondern unterliegt Risikoabwaegungen. Nichts anderes ist Gesellschaft
>>als viele gefundene Workarounds fuer zeitweise stillgelegte
>>Konflikte.
>
>Das ist dieselbe Denkweise, die auch die Kryptoregulierer mit in
>die Debatte gebracht haben, naemlich die Idee, dass Du in
>irgendeiner Form eine Wahl haettest. Du, Soziologe und
>Revolutionaer, unterschaetzt hier die struktur-redefinierende
>(von Wandlung kann kaum noch eine Rede sein) Macht der Technik,
>genau wie Kanther dies tat. Content-Filter koennen genau wie
>Kryptoregulierung funktionieren, wenn Sender und Empfaenger mit
>dem Filternden (Kryptoregulierenden) kooperieren. Das ist in der
>Regel und insbesondere in allen interessanten Faellen nicht der
>Fall, denn letztendlich brauchst Du bei den Kooperativen nichts
>zu filtern (bzw. keine offengelegten Schluessel von denen). 

Keinen Zweifel. Ich spreche nicht davon, dass Nummer 3 zwischen 1 und
2 vermitteln muss, sich also unnoetigerweise dazwischen draengelt.
_Ich_ spreche davon, dass die Konstellation, die 1 und 2 einnehmen,
durch Nummer 3 ueberhaupt erst ermoeglicht wird. Und dass sie deshalb
meint, nicht nur das Recht sondern die Pflicht zu haben, auch 
gestaltend auf diese Konstellation zuzugreifen. Selbst wenn man sie
aus der Mitte rausgedraengt bekommt, wird sie ihren Einfluss geltend
machen.

Gruss, Martin