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Re: [FYI] Jugendschutz: Filterprogramme bringen es nicht



On Thu, Jan 06, 2000 at 01:13:50PM +0100,
	Martin Rost wrote:
> Kristian Koehntopp schrieb:
[...]
> >Verzeihung, aber die Situation ist wesentlich komplexer.
> >Zunaechst einmal bestaetigen Filter keinen Wertekanon. Filter
> 
> Selbstverstaendlich bestaetigen Filter einen Teil des faktisch
> geltenden gesellschaftlichen Wertekanons: Filter machen explizit, was

Wessen Wertekanons? Denjenigen irgendeiner Subkultur wie z.B. der 
Kirchen vielleicht, aber nicht denjenigen *der Gesellschaft*. Denn die
dadurch kodifizierten Werte schliessen einen Grossteil der heutigen
pluralistischen Gesellschaftsgruppen pauschal aus. Selbst wenn vielleicht
ein minimaler Konsens ueber die Buzzword-Pages mit dem Nazi- oder
KiPo-Label erreichbar waere, so gehen die Filterkonstruktionen doch
gleich gierig viel weiter, zur Freude und mit Applaus ihrer Befuerworter.
Von der Umgehbarkeit solcher Sperren abgesehen, waeren Filter aber,
die sich auf einen solchen Zwergenkanon beschraenken wuerden, vom
Leitungsrauschen nicht zu unterscheiden, weil die Chance, auf eine
solche konsensfaehig zu sperrende Seite irrtuemlich zu gelangen,
naehe bei Null liegt. Und ob dann eine solche Seite gesperrt ist oder
nicht erreichbar, weil gerade irgendwo in den Karpaten ein Router
down ist, ist bereits heute kaum noch nachvollziehbar.

> Der Wertekanon kann einzig aufgrund seiner Nicht-Festgelegtheit
> kontrafaktisch zumindest noch leidlich in einer nicht mehr
> hierarchisch geordneten Gesellschaft wirksam sein. Der Einsatz von
> Filtern beschwoert deshalb die Konflikte erst herauf, zu deren
> Bannung sie eigentlich eingesetzt werden.

In einer solchen Gesellschaft existiert ueberhaupt kein vereinbarer
Wertekanon mehr; das ist nur mehr die Machtphantasie einiger 
konservativer Fanatikersubgruppen, die Zahnpasta zurueck in die
Tube zu druecken.

> >- Etwas zu sperren, macht keine paedagogisch sinnvolle Aussage
> >  ueber eine Moral. Es verdraengt ein Thema, aber es bewertet
> >  nicht. 
> 
> Ganz im Gegenteil: Etwas zu sperren, verdraengt nicht das Thema,
> sondern erzeugt es. Es sind bspw. die verknoechert-autoritaeren
> Lehrer, an denen Schueler besonders gut selbstgewaehlte
> Urteilsfaehigkeit lernen.

Nein, das zweifle ich an. Wo ein Vergleichsmasstab fehlt, wird
nicht mehr hinterfragt. Bekanntes Beispiel: wir erwarten bei einem
Auto oder einem Fernseher 100%ige Zuverlaessigkeit, haben es allerdings
problemlos geschluckt, die elende Windowskiste mehrmals am Tag
zu rebooten - ist eben so (das gilt jetzt nicht konkret fuer einzelne
"Wissende", welche bei ihrer Workstation mittlerweile kaum noch den
Powerschalter finden, weil sie ihn nie brauchen, aber solche
Wissenden sind bei weitem in der Minderzahl). Der Hinweis auf den
seit Jahrtausenden existenten Generationenkonflikt (Lehrer/Schueler)
ist bei der Betrachtung nicht hilfreich, weil bei der Frage filtern/
nicht filtern/was filtern/wieviel filtern bei geeigneter
Technik ueberhaupt kein Weltbildkonflikt wie bei der Beobachtung
verknoecherter Lehrer mehr auftreten wird. Die neue Generation
waechst bereits mit NewSpeak auf.

Trotz der Moeglichkeit, es sich im Netz runterzuladen, ist der Premiere-
Hack fuer PC-TV-Karten noch nicht so verbreitet, dass Kirch keinen
Umsatz mehr mit Pay-TV macht. Die paar Hacker, die durch das Sieb
fallen, sind irrelevant und werden kaum in der Lage sein, eine
Gesellschaft geeignet umkippen zu lassen (der ShockWaveRider ist
eine Utopie, keine Hoffnung).

> Es geht nicht um Kinder, sondern um Jugendliche. Der Unterschied ist
> wichtig. Kinder unterstehen schlicht der Aufsicht der Eltern/ Schule,
> der Zwang zu Autonomieuebungen besteht nur in wenigen, meist eher
> koerperorientierten Bereichen, man laesst sie auf die Baeume
> klettern. Hier kann noch funktionieren: "Nein, fuer Dich gibt es kein
> Internet! Oder nur, wenn ich dabei bin!". Jugendliche unterliegen
> dagegen der paradoxen Situation, dass sie zur Selbststaendigkeit
> erzogen werden muessen, um in ihrer Urteilsfaehigkeit autonom zu
> werden (schon Kant hatte auf die der Paedagogik inhaerenten Paradoxie
> hingewiesen: erziehen zum sich nicht erziehen lassen. Die gleiche
> Paradoxie gilt fuer "den Buerger in Uniform" in der Bundeswehr oder
> fuer den muendigen Buerger in einem Rechtsstaat. Deshalb sind
> Jugendschutz und Buergerschutz strukturell verwandte Themen). Wo
> genau der Kipppunkt zwischen Kind und Jugendlichem ist, ist wohl nur
> individuell bestimmbar.

Der Buerger in Uniform ist ein Mythos, ein Placebo. Maechtige Gruppen,
etwa die Politik und die Konsum- und Medienindustrie sind bestrebt,
den allzu selbstaendigen Menschen sich erst gar nicht entwickeln zu
lassen. Selbstaendigkeit nur soweit, wie es um das Eintippen der
EC-PIN an der Kasse geht.

> Jugend ist ein Konzept, das moderne Industriegesellschaften
> entwickelt haben, weil die Ansprueche an die Gesellschaftsmitglieder

Nach Postman ist das Konzept der Kindheit und Jugend (im Gegensatz
zum kleinen Erwachsenen) noch gar nicht so alt, und bereits jetzt
wieder in Aufloesung begriffen.

> Sowohl-als-auch-Mix. Das ist laestig, und zugleich Bedingung dafuer,
> die Freiheit zu haben, unter Alternativen waehlen zu muessen.

Wollen *wir* diesen Mix? Wer ist in diesem Zusammenhang "wir"? Und
wenn wir den Mix wollen, wer sind dann *die*, die Filtern propagieren?

> >  Etwas zu sperren codiert die Aussage "Wir reden da nicht
> >  drueber. Wir aechten so etwas offiziell, aber als Erwachsene,
> >  ohne die Sperren, sehen wir uns dann doch an.". Das ist
> >  codierte Doppelmoral.
> 
> Das ist vor allem ein letztlich hilfloser Versuch, einen konsistenten
> Wertekatalog einzustellen, der schlicht nicht mehr herzustellen ist.

ACK,...

> Man weiss sogar, dass dieser Katalog, gerade im globalen
> Masstab, nicht herstellbar ist. Man sieht sich trotzdem
> gezwungen - als Eltern/ Lehrer, die nicht in gesellschaftlichem
> Masstab handeln, sondern "nur" im organisierten (Schule/ Familie)
> Kontext - diese einzubauen. Dass Filter derzeit installiert werden,
> weil sie offenbar fuer den Horizont der Installateure hinreichend
> funktionieren, ist genau so Faktum, wie das, dass sie technisch nicht
> verlaesslich funktionieren.
[...]
> Der Soziologe sagt zunaechst einmal: Es brechen spannende Zeiten an,
> weil die Konflikte, die durch den Einsatz von Filtern gebannt werden
> sollten, ueberhaupt erst erzeugt werden. Es kommen somit Themen auf
> den Tisch, die bislang stillgelegt waren und lieber nicht angefasst
> wurden (wie auch in anderen Bereichen der Netznutzung, siehe:

...aber, cui bono? Doch sicher nicht, dass der Soziologe auf der Galerie
seine private Reality-TV-Show mit Spannung und Nervenkitzel
geniessen kann, oder?

[...]
> >Einen Sperrmechanismus zu haben, der irgendwas sperrt, aber
> >nicht wirksam und nicht geeignet ist, das zu sperren, was
> >gesperrt werden soll, ist nicht rechtmaessig. Andererseits zu
> 
> Das sollte man meinen. Du geraetst an diesem Punkt aber womoeglich in
> einen technischen Fundamentalismus. Filter funktionieren technisch

Ich sehe nicht nur technischen Fundamentalismus, sondern generellen
Fundamentalismus auf allen Ebenen und in allen Schichten, weil genau
der fruehere Wertekanon durch die Individualisierung und Globalisierung
der Gesellschaft zersplittert wurde und jetzt als ein Haufen inkompatibler
und inkonsistenter Puzzlestuecke herumliegt. Wenn wir als Individuum
uns ein Weltbild bauen wollen, kein Problem: die gibt es jetzt an
jeder Ecke, in allen Farben, Groessen und Formen. Und das ist genau
mein Problem als Individuum.

> perfekte Konfliktsituation. Sie ist u.a. deshalb perfekt, weil
> zwischen Technik, Oekonomie, Politik, Recht (strukturelle
> Untermengen: Moral, Ethik), Wissenschaft, Kunst und Kultur keine
> trivialen gegenseitigen Abbildungsverhaeltnisse bestehen. Dass
> idiotische Filter-Technik auch juristisch/ politisch als idiotisch
> beurteilt wird, steht eben nicht im Vorhinein fest. Die Reproduktion
> des Techniksystems (Wirkung/ Funktion/ Chronizitaet) unterscheidet
> sich von der Reproduktion des Rechtsystems (positives Recht, das
> entlang der Unterscheidung Recht/ Nichtrecht operiert und sich ueber
> Gesetze/ Kommentare und richterl. Entscheidungen konditioniert). Die
> Formen der Abwaegung zwischen Wirkung und Nebenwirkung zwischen
> beiden Bereichen sind inkompatibel. An diesem Punkt exakt faengt die 
> Moderne an.

Ich befuerchte eher, s.o. einen fundamentalen Trend "zurueck zur Natur", 
oder was irgendeine Art Hitleranalogon als solches plausibel versprechen
kann. Der Begriff ist vielleicht "Moderne", das Gedankengut ist aber, wie
fast alles in der Philosophie, bereits jahrhundertelang angedacht. Die
Spirale ist nur eine Windung weiter.

[...]
> Und weil das so ist, gibt es politisch derzeit so wunderbare
> Konstellationen, die vollkommen quer zur politisch motivierten
> Links-Rechts-Unterscheidung liegen (die Kryptodebatte liegt, wie auch

Die alten Feindbilder taugen leider nichts mehr in einer Welt, wo es
neben links und rechts noch unzaehlige weitere Dimensionen gibt. Die
Verhaltensweisen ignorieren diese Entwicklung jedoch.

[...]
> >Das ist natuerlich vollkommen unakzeptabel. Also bleibt nur die
> >andere Alternative: Ehrlichkeit. Akzeptieren ohne zu Bejahen.
> >Das erzeugt sowieso die lebenswertere Welt.
> 
> Och noe, eine logisch konsistente waere mir eine zu trist-triviale Welt...

Also doch Reality-TV von der Galerie? ;-)

Holger

-- 
"Well, from what I've read, scientific studies show men tend to be better at
dealing with visual concepts, while women are better at complex linguistic
communication." - "You mean..." - "Men are from MACs, women are from VMS"
	Erwin the AI, www.userfriendly.org