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Re: [FYI] Misthaufen & Orale Tradition?



On Mon, Nov 27, 2000 at 11:22:14AM -0800, Nathalie Merle wrote:
> [...]
> >  Vielleicht sollte einmal jemand diese Herren daran erinnern, welch
> >  enorme Furcht einige der totalitären Regime des letzten Jahrhunderts
> >  (man denke an das Rumänien Ceaucescus [sp?]) vor Schreibmaschinen
> >  und Kopierern hatten - zu recht, übrigens.
> 
> Das ist ja auch die Angst vor dem Internet. Verteiltes, nicht zu
> kontrollierendes Wissen..........

Wobei ich diese Angst fuer unbegruendet halte, im Gegenteil: ich teile
inzwischen die Einschaetzung, dass die Behauptung "Das Internet bedeutet
*Wissen* fuer alle" ein moderner Mythos ist.

Zunaechst einmal werden hier die Begriffe Wissen und Information und
in gewisser Hinsicht auch Wahrheit und Common Sense munter in einen
Topf geworfen. Eine Webseite, welche behauptet, dass die Erde flach
sei, hat einen gewissen Informationswert (der noch gar nicht mal hoch-
theoretisch ueber die Entropie definiert sein muss), aber er vermittelt
kein (anerkanntes und erwuenschtes) Wissen und auch keine (wissenschaftlich
vorlaeufige) Wahrheit. Man kann mittlerweile zu jeder abstrusen These
eine Seite im Internet finden, und ebenso eine dazu gehoerige verwebte
Antithese. Der schwarze Peter, an was man denn nun glauben mag, liegt
immer noch beim Konsumenten des Netzes, bei seiner so viel beschworenen
"Medienkompetenz". Anders als etwa wissenschaftliche und oft langatmige
Abhandlungen zerfleddert das Netz das Wissen - oder was der Webseiten-
schreiber dafuer haelt - in kleine handliche Informationsfetzen (nicht
unaehnlich dem Ueberschriftenstil der Tagesschau), so dass sich ein
Gesamtbild, wenn ueberhaupt, erst nach eingehendem Studium zahlreicher
Quellen ergibt. Das Internet bildet keine Monographie zu einem Thema,
sondern einen Flickenteppich aus "wahren" und "unwahren" Fragmenten.

Der Konsument nimmt sich, genau wie im Prinzip im RL, das Produkt aus
dem Internet heraus, welches ihm am ehesten zusagt, etwa weil es seine
Grundhaltung unterstuetzt oder weil die Aufbereitung der Information
fuer ihn besonders ansprechend ist. Nicht anders gehen wir im RL vor, wenn
wir im Supermarkt eine Tuetensuppe oder ein Waschmittel einkaufen (und
auch der Griff zum namenlosen "Oeko"-Pulver ist eine Praegung wie der
durch Werbung bedingt Griff zum Markenprodukt).

Das Netz kann bei der Masse von medienmaessig schlichtweg ungebildeten
Konsumenten vorhandene Trends und Vorstellungen verstaerken, aber sie
nicht wirklich steuern. Es gibt einfach einen zu grossen Pool an
Wahrheiten, aus denen man seine eigene Identitaet zusammensetzen kann.
Letzteres passiert durchaus bereits jetzt: Waehrend man etwa frueher
sein Erscheinungsbild durch geeignete Wahl von Bekleidung und Auftreten
(Knigges Manieren" beeinflussen konnte, ist es in der virtuellen Welt
moeglich, nicht nur seine Traumidentitaet zu praesentieren, sondern sogar
vom Kontext und der Umgebung und der Tageszeit unterschiedliche Identitaeten
anzunehmen und zu spielen.

Wie aber will ein Machthaber mit einer Masse von Konsumenten umgehen,
welche zwar vielleicht hordenweise der aktuell durchs Mediendorf
getriebenen Sau hinterherlaeuft, aber ansonsten nicht mehr so einfach
durch Schwarz-Weiss-Kategorien klassifizierbar ist, anfangen? Die
zunehmende Zahl der Nichtwaehler zeigt doch eindeutig, dass die klassischen
Meinungsschatullen nicht mehr hinreichend sind.

> >  Wissen ist, wie wir alle wissen, Macht - und Wissensweitergabe ist
> >  die Weitergabe genau dieser Macht.  In konservierter Schriftform
> >  auch über Generationen hinweg.

Ich sehe angesichts der Flut an widerspruechlichen Informationsfetzen
im Netz durchaus das Problem, dass die Weitergabe von Wissen in
Schriftform an Bedeutung verlieren wird und wie eher zu einer *Ohralen*
Kultur kommen werden, im Sinne von kurzlebigen akustischen (aber auch
visuellen) Eindruecken, ueber Handis oder Radiobroadcastmedien. Der
unmittelbare Unterschied zwischen einer E-Mail und einem Anruf besteht
in der Unverbindlichkeit des letzteren. Waehrend man bei einer E-Mail
das Anliegen schwarz auf weiss besitzt - nachvollziehbar, verbindlich,
reproduzierbar, konserviert - wird ein Anruf recht schnell dem Vergessen
anheimfallen. Nach einiger Zeit ist die vermittelte Information teilweise
veraendert, interpretiert, angepasst, mystifiziert. Jeder kennt das 
Stille-Post-Spiel und weiss, was dort passiert. Solche Anpassung der
Sichtweise ist aber gewollt (am deutlichsten bemerken wir dies bei
Gedaechtnisluecken von Politikern) - so mancher wuerde gerne seine
deja-com^Hnservierte Vergangenheit verstecken, weil sie einen Bruch zu
seiner aktuellen Avatar-Identitaet im Netz oder RL offenbart (man kann
zu seiner Vergangenheit stehen - dazu gehoert allerdings reichlich
Selbstbewusstsein).

> >  Wenn eine Gesellschaft leicht zu steuern und zu kontrollieren ist,
> >  dann eine, in der nur wenige wissen, und in der nur wenige in der
> >  Lage sind, Wissen weiterzugeben und zu rezipieren - und zwar ohne
> >  die Vermittlung eines kontrollierend eingreifenden Dritten.

Es wird sicherlich eine Wissenselite geben - das sind vermutlich nicht
wie in frueheren Tech-SF-Utopien Wissenschaftler und Techniker, welche
mit dem Wissen in positiver Weise fuer die Menschheit umgehen - sondern
wie in der Vergangenheit auch Personen, die diesen Vorsprung egoistisch
ausnutzen werden. Das ist nichts Neues: es unterscheidet sich nur de jure
marginal von den Feudalgesellschaften des Altertums und des Mittelalters.
Wir haben zwar keine Bauern- und Arbeitersklaven mehr, aber abhaengige
Konsumenten.

> Agree.
> Aber was passiert erst mit Menschen, die keine Menschen mehr zur
> Wissensvermittlung haben? Wissen wir wirklich wie die menschliche
> Kommunikation aufgebaut ist?

Wir haben auch jetzt, wie in den vergangenen Jahrhunderten, Habenichtse;
frueher fehlte ihnen das Land, heute fehlt ihnen der "Access" (Rifkin)
zu nichtmateriellen Resourcen. Das wird sich auch nicht aendern, wenn
im letzten Igluzelt oder Negerdorf jeder vernetzt ist. Der Grund liegt
in der zunehmenden Abschottung der wertvollen Wissensresourcen und
Kommerzialisierung von Informationsquellen. Der Begriff "Quelle" trifft
den Kern: frueher musste man fuer Wasser in einer Oase zahlen, heute
fuer den Zugang zu First-Hand/First-Class-Informationen.

> Modelle sagen 10% sind das gesprochene Wort, 20% Eindruecke wie
> Koerperhaltung, Kleidung etc, von den anderen 70% wissen wir nicht viel.

Ich halte diese Zahlen fuer ebenso fragwuerdig wie die scientologische
Behauptung, wir wuerden nur 10% unseres Gehirns tatsaechlich nutzen.
Was richtig ist, ist dass im wesentlichen die nonverbalen Sinneseindruecke, 
darunter aber vor allem auch individuelles Befinden, eine Bedeutung fuer
menschliche Kommunikation haben. Es besteht durchaus noch viel Bedarf,
das weiter zu untersuchen. Menschen haben allerdings einen 

> Nehmen aber wesentlichen Einfluss auf den Menschen. Wir halten immer noch
> physische Konferenzen, Babies muessen immer noch in den Arm genommen
> werden,sonst verkuemmern sie, Mitarbeitergespraeche sind immer noch

Babies und physiche Konferenzen sind zwei vollkommen unterschiedliche
Bereiche, die nicht miteinander verquickt werden duerfen. Im ersteren
Fall geht es um den Aufbau einer individuellen Erfahrungswelt aufgrund
von Sinneseindruecken, im zweiten Fall um den Erhalt des aufgebauten
Beziehungsgeflechts.

> persoenlich am besten. Manche Dinge sind nicht virtualisierbar oder wortbar.

Dass reine Telearbeit nicht funktioniert, sondern immer noch ein wenig
physische Anwesenheit, etwa eine woechentliche Konferenz, erfordert,
liegt vor allem daran, dass wir uns ueber Generationen mittlerweile
durch unsere Arbeit definieren. Fuer viele Menschen stellen die Kollegen
nur mehr die einzige groessere Kontaktgruppe dar (von fluechtigen Kontakten
etwa mit Haendlern oder Kunden bei Geschaeften abgesehen) dar. Waeren wir
in weitere Beziehungsgeflechte hinreichend eingebunden, koennten wir unser
Kontaktdefizit anderweitig kompensieren.

> Im Gegenteil-der Intellekt scheint nur ein kleiner Teil zu sein.
> Indianer haben nur muendlich und mit Zeichen ihr Wissen vermittelt. Ich
> wuerde sie nicht als kulturlos bezeichnen.

Bei solchen oralen Kulturen hat sich im Laufe der Generationen tatsaechlich
ein fuer die entsprechende Gruppe relevanter Wissenskanon und Konsens
gebildet. Dieser stabilisiert gleichzeitig die Gruppe, aber nur dann, 
wenn sie den Kontakt zur Aussenwelt (hier insbesondere fremden Gruppen mit
fremden Auffassungsgeflechten) vermeidet. Andernfalls, das hat sich
gezeigt, zerfallen solche Gruppen. Das gesammelte Wissen besitzt nur
dann einen Wert, wenn es mangels Fremdeindruecken nicht bewertet werden 
kann. Man kann sich dann daran klammern.

> Passiert denn im Moment nicht auch etwas Neues? ...von dem wir noch gar
> nicht wissen wie es aussieht? neue Faehigkeiten, neue Wahrnehmungen, neue
> Paradigmen,..eine neue Qualitaet?

Es passiert staendig etwas Neues.

> >  Tatsächlich könnte es sein, daß wir auf dem besten Weg hin zu einer
> >  solchen Gesellschaft sind.  Wir beobachten, daß die präzise
> >  Ausdrucksweise, die eine geschriebene Sprache ermöglicht und häufig
> >  überhaupt erst herausbildet, immer weniger verstanden - geschweige
> >  denn genutzt - wird.  Wir beobachten, wie eine Generation
> >  heranwächst, der jedes kulturelle und historische Gedächtnis fehlt -
> Ja, dort wo sich die Menschen nicht umeinander kuemmern.

Also hier, in der Postmodernen Netzgesellschaft? Das ist zu kurz gegriffen.
Was derzeit passiert, ist die kommerzielle Verwertung nichtmaterieller Gueter;
dazu gehoeren nicht nur Informationen aller Art, sondern auch menschliche
Kontakte. Letzteres ist aber auch nichts Neues: in frueheren Jahren, als
es noch den euphemitischen "Generationenvertrag" gab und die Grossfamilie
aus drei oder mehr Generationen bestand, hat man auch bereits einen 
informellen Deal gemacht: Oma wird durchgefuettert, dafuer muss sie sich
um die Enkelkinder kuemmern. Heute haben kommerzielle Institutionen diesen
Job uebernommen, weil das "Kuemmern" im weiteren Sinne als vermarktungs-
faehiger Wert erkannt worden ist: es gibt Kindergaerten, Privatschulen,
Altersheime und Altenpflegestellen (Pflegeversicherung!!!) und zahlreiche
andere Dienstleistungen, an die wir das Kuemmern abgeben koennen. Nicht
zu vergessen die Dienstleister, welche uns selbst - gegen bare Muenze,
verstaendlich - Services fuer unser eigenes Wohlbefinden anbieten:
fitness- und Gesundheitsstudios, Kurparks, aber auch bis zum aeltesten
Gewerbe der Welt gehend, wo wir Beduerfnisse, die anderweitig mangels
Bezugspersonen nicht erfuellbar sind, ausleben koennen.

> >  der damit aber zugleich auch die aus diesem Gedächtnis geborenen
> >  Ausdrucksmöglichkeiten fehlen.  Wer weiß heute noch, was ein Gang
> >  nach Canossa ist, und warum der so heißt?  Wer versteht "bezirzen"?
> >  Wer weiß, was ein "Sirenengesang" ist?  Wer versteht, was es heißt,
> >  wenn jemand seine "Silberlinge" bekommt?  Ich würde diese Fragen
> >  lieber keinem durchschnittlichen Gymnasiasten stellen wollen.
> 
> Naja. Ein paar wissen es schon noch.

Wenn man sich ansieht, mit welchen hanebuechenen Fragen heute Quizsendungen
bestritten werden und die Kandidaten dennoch reihenweise mit Unwissen
glaenzen, dann muss ich davon ausgehen, dass es keinen Wissenskanon mehr
gibt und das Restwissen ueber obige Fragen in ein, zwei Generationen
endgueltig verfallen ist. Warum muss man sowas auch wissen? Man kann es
doch gegebenenfalls im Internet aufsuchen. Man lagere sein Gedaechtnis
ins Netz aus. 

Hoffentlich findet man es dann bei der Fuelle an Zeugs auch wieder.
Ich bezweifle es.

Holger

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