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Re: Weitere Presse zum Compuserve-Urteil



[ Diese Mail geht an debate@fitug.de und an
  krypto@rhein-main.de, wo die Ursprungsnachricht auch herkommt. 
  Den Rest der Diskussion bitte in debate, weil das thematisch
  da viel besser hineingehoert. -- KK ]

In netuse.lists.krypto you write:
>Ja. Und viele Kinder sind gerade ermordet worden.
>Ich sehe eben (auch auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen) 
>1. Kinderpornographie muss weg
>2. Kinderpornographie ist was anderes als Meinungsfreiheit und RAF 
>und sonstiges Material im Internet (uebrigens mM auch playboy-level
>Porno)
>3. alle legitimen Kryptoanstrengungen werden einfach strafbar gemacht
>vom Staat mit Hinweisen auf Kinderpornographie (und natuerlich
>Kriminalitaet),
>und abschliessend kann ich mir nicht vorstellen, dass Internet
>Kinderpornographie nicht technisch unterbunden werden kann.
>Wie waere z.B. eine technische Strafe fuer den Kinderpornoanbieter (ping
>-f) und zumindest ein Piekser an seinen Provider?


Liebe Leute,

die Wogen gehen hoch nach diesem Urteil und viele Beteiligte auf
beiden Seiten dieser Diskussion verlieren einen wichtigen Aspekt
aus den Augen.


"The social dynamics of the net are a direct consequence of the
 fact that nobody has yet developed a Remote Strangulation
 Protocol." -- Larry Wall

Kinderpornographie ist ein Problem, zudem eines, mit dem man
viele Menschen sehr betroffen machen kann. Und auch eines, mit
dem man Diskussionen ueber ein kompliziertes Thema wie
Meinungsfreiheit in der Oeffentlichkeit stark vereinfachen kann,
weil sie es einem kaum erlauben, gegen Kontrolle und Verbote zu
argumentieren, ohne sich ins Zwielicht zu setzen.

Kinderpornographie ist aber kein Problem des Netzes. Es ist kein
Auesserungsdelikt oder ein anderes Vergehen, das nur im Netz
oder primaer durch das Netz wirksam wird. Es handelt sich hier
um ein sehr Problem in der realen Welt, gegen das man nur
wirksam in der realen Welt vorgehen kann. Als Problem des
Internet ist es im Vergleich zu den anderen Problemen des
Internet marginal (aber eines, das man der Oeffentlichkeit sehr
leicht verstaendlich machen kann - wohl dem, dem es in seine
wahre Agenda passt).


Wie dem auch sei: um ein Thema aus dem Netz wegzukriegen, ist
jede Form von Aktion im Netz wirkungslos. Das ist ein Aspekt von
dem, was Larry Wall in dem Zitat da oben auszudruecken versucht.
Die praktische Erfahrungen bestaetigen dies im Kleinen wie im
Grossen: Weder funktionieren "Netzausschluesse" in Tiernetzen
(klar, der Idiot ist aus einer Mailbox geflogen, aber in einem
anderen Netz oder einer anderen Box oder unter einem anderen
Namen ist er wieder online), noch zeigen generalstabsmaessig
geplante Angriffe gegen Spammer auch nur die geringste
Dauerwirkung: Klar, manche Subnetze sind blacklisted, manche
Artikel sind gecanceled und manche Spammer sind voruebergehend
ohne Account.

Trotzdem ist bisher jeder Idiot in einem Nickelnetz noch wieder
zu einem Account gekommen und meine Incoming Mailbox ist immer
noch jeden Morgen voller Spam. Aktionen gegen z.B. Neonazis in
Netzen zeigen nur dann dauerhafte Wirkung, wenn es gelingt, sie
anzuzeigen, also in der realen Welt gegen sie vorzugehen. Und
Spamford hat auch erst aufgegeben, als er Prozesse in der
wirklichen Welt reihenweise verloren hatte.


Diese Erfahrung ist eine, die die Juristen und Politiker den
Technikern hier voraus haben und ihr Ansatz zur Fremdbestimmung
unserer Netzkultur durch Regulierung in der realen Welt ist
offenbar auch sehr wirksam - der Aufruhr hier beweist es.

				-=*=-

	"Die Themen in Onlinediensten sind ein Spiegelbild der
	 Gesellschaft, die dort diskutiert. Bestimmte Themen,
	 Diskussiongruppen oder gar einzelne Worte zu verbieten
	 ist, wie einen Spiegel zu verhaengen, weil einem das
	 Bild darin nicht gefaellt."

Trotzdem machen die Juristen und Politiker denselben Fehler wie
die Techniker, indem die am Zensur- und Kontrollrad drehen, um
Probleme im Netz zu bekaempfen. Dadurch, dass man versucht,
Inhalte und Materialien im Netz zu kontrollieren, behebt man
keine Probleme. Wir Techniker wissen das: Wir haben das Netz
schliesslich so konstruiert, dass es eine ganze Menge Eingriffe
aushaelt und trotzdem funktioniert - und so stand es
schliesslich auch in der Spezifikation.

Wir Techniker haben jetzt jedoch ein politisches Problem: Wir
muessen den Politiker und Juristen klarmachen, dass wir nicht
dazu da sind, deren Arbeit zu machen. Kinderpornographie,
Neonazis, Terroristen und Mafiosi sind keine technischen
Probleme. Es ist nicht unsere Aufgabe, diese Probleme zu
loesen.

Und es ist auch nicht unsere Aufgabe, Mechanismen zu
konstruieren, die verhindern, dass man UEBER diese Leute reden
koennen noch ist es unsere Aufgabe, Mechanismen zu konstruieren,
die verhindern, dass diese Leute MITEINANDER reden.

Gegen ein soziales oder politisches Problem mit technischen
Loesungen anzutreten, ist ein Kampf, den man lang- und
mittelfristig nur verlieren kann. V-Chips und Net-Nannys
ersetzen keine Eltern, ja nicht einmal elterliche Fuersorge.
Ebenso ersetzen Filter und Abhoervorrichtungen keine Polizisten,
ja nicht einmal solide Ermittlungsarbeit. Wer anderes behauptet,
hat eine andere Agenda, die es zu enthuellen und blosszustellen
versucht. 


				-=*=-

Naemlich vermutlich bewusst oder unbewusst diese hier:

"Das grundsätzliche Problem der Politiker ist, daß sie
 Globalität reden, aber nicht denken können, während die
 Netizens Lokalität reden, aber nicht realisieren können."
	-- Lutz Donnerhacke auf debate@fitug.de

Oder anders gesagt: Gemeinschaften (bloedes Wort, "communities"
meine ich) im Netz orientieren sich nicht an geographischen
Zwaengen, sondern an thematischen Zusammenhaengen ("sing my
song" redet von diesem Thema). Personen im Netz sind vielfaeltig
thematisch interessiert und so gleichzeitig Mitglied in mehreren
solcher Gemeinschaften. Manche wechseln sogar ihren Identifier
(ihr Handle, nicht ihre Identitaet), wenn sie die von einer
Gemeinschaft auf die andere umschalten.

Unsere Herrschaftsstrukturen in der realen Welt sind
geographisch-national ausgerichtet und koennen solche
Gemeinschaften nicht fassen - darum ja die Probleme, die ihren
Niederschlag in den Zensur- und Verantwortlichkeitsdiskussionen
finden. Mit zunehmendem Eindringen der Netzkultur in die reale
Welt wird dies zu einer Bedrohung oder vermeintlichen Bedrohung
fuer diese Herrschaftsstrukturen (Ein Aspekt von Axels Wort vom
"Kulturkampf").

Das ist teilweise eine unsinnige Befuerchtung, weil das
Individuum immer noch den Beschraenkungen der realen Welt
unterliegt und sich daran durch seine verbesserten
Kommunikationsmoeglichkeiten auch nichts aendert. 

Andererseits ist es aber eine sehr reale Befuerchtung, weil die
geographisch-kulturelle Gleichschaltung, die die Basis fuer die
Bildung der Nationalstaaten gebildet hat, zerstoert wird und
sich zu den geographischen orthogonale kulturelle Strukturen
entwickeln koennen. Diese kulturellen Strukturen sind nur
deswegen noch keine direkte Gefahr fuer Nationalstaaten, weil es
keine Kulturen, sondern nur Subkulturen sind, d.h. weil sie
nicht vollstaendig genug sind, um das ganze Leben eines
Individuums abzudecken (von singulaeren Existenzen einmal
abgesehen). Sie schwaechen aber den Zusammenhalt von
Nationalstaaten: Jedesmal, wenn sich jemand von Euch mit
gleichgesinnten Auslaendern im Netz unterhaelt, statt sich vor
den Fernseher zu setzen, toetet er ein Stueck Deutschland.


Die einzige globale Struktur, die wir zur Zeit kennen und die
traegfaehig genug waere, einen Nationalstaat abzuloesen, ist der
Konzern. Abgesehen davon, dass Konzerne in der Regel bestenfalls
Subkulturen entwickelt haben und diese Subkulturen nicht sehr
vielfaeltig sind (sondern im Gegenteil einander sehr aehneln und
nicht sehr anheimelnd sind), basieren sie ausserdem auf einem
Gesellschaftsmodell der Konkurrenz, das langfristig evolutionaer
nicht erfolgreich sein kann.