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Re: Balkan, China und Demokratie
- To: debate@fitug.de
- Subject: Re: Balkan, China und Demokratie
- From: Rudolf Schreiner <ras@muc.de>
- Date: Sat, 4 Jul 1998 17:35:16 +0200 (MET DST)
- Comment: This message comes from the debate mailing list.
- In-Reply-To: <Pine.LNX.3.95.980703092104.2320B-100000@wtao97.oas>
- Sender: owner-debate@fitug.de
Hartmut,
ich werde mich wieder zuerst Deiner merkwuerdigen Geschichtsauslegung
widmen. Wer sich dafuer nicht interessiert, mag gleich zum Ende dieser
Mail springen.
On Fri, 3 Jul 1998, PILCH Hartmut wrote:
> Ich behaupte nicht, dass die Kreuzzuege tatsaechlich immer aus den hehren
> Motiven gefuehrt wurden, durch die sie sich als "Kreuzzuege" definierten.
> Ohne die Motivation waeren sie jedoch nicht zustandegekommen.
Es war sehr hilfreich zur Motivation des dummen Volkes, das stimmt. In
Propaganda war man damals auch schon ganz gut.
> Ein Krieg,
> der nicht "die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln" ist, bricht
> zusammen.
In der Tat. Und die Politik war Expansion. Der Macht, nicht des Glaubens.
> Ein diffuser Expansionsdrang in fremde Weltgegenden mag
> bestanden haben, und hier hatte er eine Legitimation gefunden: das
> Anliegen aller Europaeer, einen externen Aggressor zurueckzuschlagen.
Warum hat dann Anna Komnena, immerhin Tochter des byzantinischen Kaisers
Alexios, die Fuehrer der Kreuzfahrer als Heuchler bezeichnet, die in
Wirklichkeit selber Byzanz einkassieren wollen? Was sie dann ja auch spaeter
gemacht haben. Die Pluenderungen 1204 durch Enrico Dandolo waren
weit schlimmer als die Zerstoerungen durch Mehmet II. Fatih 1453.
Warum wandte sich der Kreuzzug von 1096 _nicht_ gegen Osten, gegen die
Tuerken, die 1071 bei Manzikert die Byzantiner schwer geschlagen hatten?
Sondern gegen Jerusalem, das man 1099 einnahm? Nach der Einnahme von
Jerusalem widmeten sich die Kreuzfahrer auch gleich christlichem Tun, sie
erschlugen die besiegten Muslime und, noch schaendlicher, brannten die
Jerusalemer Synagoge mitsamt allen Juden der Stadt nieder.
Reicht das? Oder soll ich weiter schreiben? Vielleicht noch mit
Quellenangaben?
> > Die Tuerken hatten dann nichts anderes gemacht als alle anderen
> > auch, naemlich erobert, was zu erobern war.
>
> Sicher. Dennoch waren sie ebenso eine Bedrohung fuer die zerstrittenen
> Europaeer, wie auch zuvor die Hunnen und Mongolen.
Und die Europaer greifen "zur Verteidigung" das damals seldschukische
Jerusalem an? Tolle Logik!
> Hodscha hatte keinen Grund, rueckstaendiger als Tito zu sein. Dass in
> Albanien sich ein besonders archaischer Despotismus durchsetzte, liegt
> sicher nicht nur an wenigen Personen sondern an den Ausgangsbedingungen
> dieses Landes.
"Wenige Personen" schaffen es aber durchaus, ein Land vor die Hunde gehen
zu lassen. Siehe Nordkorea. Hat Hodscha nicht eine durchaus aehnliche
Politik verfolgt? Mit vergleichbaren Erfolg?
> > Jaja, der Kalte Krieg. Gut und Boese. USA und UdSSR. Linux und Microsoft.
> > Ist die Welt vielleicht nicht doch etwas komplizierter?
>
> Fuer die differenzierte Betrachtung muss man sich von solchen Schemen
> radikal loesen koennen.
Simple Schemata treffen selten zu.
> Im wirklichen Leben muss man aber zu "Don't be
> soft on Microsoft" zurueckkehren, da die Bedrohung real und nicht durch
> Wahrheitssuche aus der Welt zu bringen ist.
Ich bin auch nicht "soft" zu Microsoft, ich hasse das Zeug wie die Pest.
Ich versuche auch, mit technischen und oekonomischen Argumenten den
Einsatz von Microsoft-Produkten zu verhindern, wo immer es geht.
Aber ich mache keinen Kreuzzug daraus: Die "Linuxbewegung"? [Schauder]
> Reagans Rhetorik vom "evil
> empire" war wissenschaftlicher Unsinn aber im politischen Kontext wahr.
"Evil" ist z.B. eine Verletzung des Voelkerrecht. Da haben sich die USA,
gerade auch unter Reagan, durchaus hervorgetan. Wenn es ihnen passte,
haben die USA auf das Voelkerrecht gesch***en. Nicht anders als die
UdSSR.
> Warst du da Teil der Unruhen in Ili?
Nein. Peking 1990. Das war an sich alles vollkommen harmlos: Kurz vor
Beginn der Asienspiele wurde irgendein Symbol fuer diese Spiele (Feuer
oder so) nach Peking gebracht. Ich stand in einer Menge bestens
gelaunter, froehlicher Chinesen, ganz vorne an der Absperrung. Meine
Begleiterin, eine Sinologin aus Oxford, meinte spaeter, er waere nichts
regimekritisches zu hoeren gewesen, alle haetten sich auf dieses Ereignis
gefreut. Trotzdem wollten die Verantwortlichen anscheinend gepruefte
Faehnchenschwenker direkt an der Absperrung und somit im Blickwinkel der
Fernsehkameras haben. Wir, diese harmlosen Chinesen mit ein paar
Langnasen dazwischen, wurden deshalb von der Polizei brutal weggepruegelt.
Direkt an die Absperrung kamen dann zuverlaesige Genossen. Die Stimmung
war dann nicht mehr so gut, wir hatten blaue Flecken.
Nach dieser Aktion fragten wir uns, was diese Polizisten machen, wenn
wirklich was los waere.
> Soweit ich sehe, laeuft die chinesische Politik auf Assimilierung bei
> gleichzeitigem besonderen Schutz der Minderheiten hinaus.
Schoen sagst Du das. In anderen Worten: Ihre Kultur wird zerstoert.
> Gerade die
> Minderheitsangehoerigen muessen nicht um ihre materielle Existenz,
> allenfalls um ihre kollektive Identitaet fuerchten.
Und wer seinen Glauben nicht aufgeben will, der landet im Lager.
Freunde, die von Kashgar aus in suedoestlicher Richtung aus reisten,
haben die Lager mit versklavten Uiguren gesehen.
> Auch die religioesen
> Kulte werden nicht unterdrueckt sondern eher gefoerdert.
Ach, darum standen in der Moschee in Kashgar immer diese chinesischen
Geheimdienstler 'rum? Damit keiner die Moschee klaut?
> Ueberall in
> chinesischen Staeten findet man Uighurenviertel und Angehoerige aller
> Minderheiten.
Zu denen bin ich in Peking immer zum Essen gegangen. Ich hatte den
Eindruck, dass sie von den Chinesen behandelt wurden wie der letzte
Dreck.
> Alles wird durchmischt. Darauf reagieren viele Leute
> genauso wie bei uns: sie wollen unter sich bleiben und ihre Identitaet
> pflegen. Wenn diese Reaktion sich in Proteste und Demonstrationen
> artikuliert, schlaegt die Polizei zu.
Es werden in Sinkiang immer mehr Chinesen angesiedelt. Sie, und nicht die
Uiguren, haben dort die Macht, oder auch nur die besseren
Lebensverhaeltnisse. Sinking ist eine chinesische Kolonie, keine Mischung
gleichberechtigter.
Die Situation in Tibet ist wohl allgemein bekannt.
> Ich koennte nicht behaupten, dass dieser chinesische Zustand schlechter
> ist als der jugoslawische.
Findest Du ihn _gut_? Ich nicht!
> Denn die Eskalation der Identitaetssuche
> fuehrt zwangslaeufig zu Buergerkrieg und ethnischen Saeuberungen.
Die Zerstoerung der Identitaet und Kultur fuehrt zwangslaeufig zu
Buergerkrieg und ethnischen Saeuberungen, weil sich die Betroffenen
wehren. Den allermeisten Tibetern ist's doch vollkommen egal, wer im
Grenzhaeuschen sitzt oder welche Farbe Tibet auf der Landkarte hat. Aber
die Zerstoerung ihrer Kloester, ihrer Kultur und Religion, ihrer
Identitaet, finden sie nicht so lustig. Ich auch nicht.
> Viele
> Gebiete koennten eigene Staaten gruenden, aber keines ist und war jemals
> ethnisch homogen. Das kurze Intervall eines ostturkestanischen Staates in
> den 40er Jahren war von Voelkermord grossen Stils an Han-Chinesen
> gepraegt.
Sinkiang wurde erst im 18. Jahrhundert chinesisch, auch dann war die
Macht Chinas dort nie unangefochten, die Uiguren wollten sie dort nie
haben. China betreibt eine kolonialistische Politik.
Das Problem ist nicht, dass Tibet und Sinkiang Teile Chinas sind. Das
Problem ist, was die Chinesen dort machen. Wer sich assimiliert, bleibt
ein Chinese zweiter Klasse, wer sich nicht assimiliert, wird beseitigt!
> Offene Software erzeugt eben gerade keinen Zwang. Es geht darum, in einer
> Welt zu leben, in der die Wahl des Betriebssystems nicht durch
> Kompatibilitaetsanforderungen diktiert wird.
Ich habe bei Dir aber den Eindruck, "Offenheit" heisst vor allem "Linux".
> > Du hingegen bist ein Anhaenger eines
> > buerokratischen Obrigkeitssystems, dessen Spielregeln am liebsten Du
> > selber machst. Wenn irgendwelche Stellen definieren, was politisch
> > korrekt ist und was nicht, wer "wahlwuerdig" ist und wer nicht (Wir wollen
> > doch keine Ochlokratie!), welche Betriebssysteme "korrekt" sind oder
> > nicht, was eine historische Tatsache ist und was nicht, dann schrillen
> > bei mir die Alarmglocken. Das sind die ersten Schritte zur Diktatur.
>
> Bitte belege den letzten Satz etwas naeher.
Gerne: In Deinem buerokratischen Obrigkeitssystem gibt es eine Elite,
welche die Entscheidungen trifft und sie dann durchsetzt. Das ist
wundergut, wenn diese Elite wirklich eine Elite im positiven Sinne ist
und nur "gute" Entscheidungen trifft und durchsetzt. Bemaechtigt sich
jedoch eine nicht so gute Elite der Macht, hat sie damit einen
hervorragenden Unterdrueckungsmechanismus. Die positive Elite entscheidet
z.B., dass im Internet ein Mechanismus zuer Bekaempfung von Straftaten
wie Volksverhetzung oder Kinderpornografie eingefuehrt wird: Proxyzwang
und staatlicherseits vorgegebens Filter. Wunderbar, jeder anstaendige
Mensch ist natuerlich gegen Kinderpornos. Nur, was passiert, wenn
"irgendwie" eine Gruppe an die Macht kommt und diese Mechanismen nutzt,
um politisch missliebige Inhalte zu verhindern? Schon haben wir eine
Diktatur! Deswegen bin ich gegen jede Einschraenkung der Meinungs- und
Informationsfreiheit. (Soweit dies nicht direkt gegen andere Grundrechte
verstoesst.) Deshalb trete ich dafuer ein, dass Du Deine
Geschichtsklitterungen und Rechtfertigungen der chinesischen Diktatur
weiter verbreiten kannst. Und ich haue Dir dann historische Fakten oder
Tatsachen aus eigenem Erleben um die Ohren, auf dass sich jeder Mitleser
ein eigenes Urteil bilde.
> Viele historische Erfahrungen
> zeigen, dass eine handlungsunfaehige Ochlokratie das Vorstadium zur
> Diktatur ist.
Und was war das Vorspiel der Ochlokratie? Gleitet eine funktionierende
Demokratie mit einer gescheiten Verfassung so leicht in eine Ochlokratie ab?
Ich denke nicht.
> Mir geht es hingegen darum, die Dinge ueber oeffentlich
> kontrollierte Regeln in den Griff zu bekommen und allen (nicht nur einer
> irgendwie privilegierten Obrigkeit) gleiche Moeglichkeiten der rationalen
> Einflussnahme zu schaffen.
"Allen"? So wie in China?
Rudi