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Re: Otto Schily - ein wuerdiger Kanther-Nachfolger.



On Sun, 19 Jul 1998, Axel H. Horns wrote:

> Heute war Otto Schily um 11:00 Uhr im DLF-"Interview der Woche" zu 
> hoeren. Am Ende des Gespraeches bekannte sich Schily ausdruecklich zu 
> der Verfassungsauslegung à la Rupert Scholz und Josef Isensee, wonach 
> die Grundrechte heute nicht mehr (nur?) ein Abwehrrecht des Einzelnen 
> gegen den Staat, sondern (auch?) einen Anspruch des Einzelnen an den 
> Staat auf aktiven und nicht zuletzt praeventiven Schutz vor den 
> Boesartigkeiten der Mitbuergerinnen und Mitbuerger beinhalte.

Ich habe ein paar Artikel von Scholz u.a. zu diesem Thema in der
Monatszeitschrift "Mut" gelesen.  In eine aehnliche Kerbe haut Helmut
Schmidt mit seinem Katalog der "Menschenpflichten".  Es besteht weithin
eine Unzufriedenheit mit der ueberkommenen Menschenrechtsideologie.  Man
sieht das Gleichgewicht gestoert und versucht, ein paar Korrekturen
anzubringen, um die Ideologie selber aufrechterhalten zu koennen. 

Gibt es im Internet gute Artikel von der Seite Scholz-Isensee?
 
> Zu Hartmut Pilch ist zu sagen, dass von ihm hier etwas 
> durcheinandergebracht wird, was man tunlichst auseinanderhalten 
> sollte:
> 
> a) Grundrechtseinschraenkung als "Notwehr" des Staates gegen solche 
> Kraefte, die die Staatsordnung unterminieren wollen - Hitler-Syndrom, 
> und
> 
> b) Grundrechtseinschraenkung aufgrund eines Staatsverstaendnisses, 
> das sich immer mehr vom Schutz der Staatsbuerger durch repressive 
> Verfolgung bereits geschehener Verbrechen loest und immer mehr dazu 
> tendiert, praeventiv noch gar nicht geschehene Verbrechen verhindern 
> zu wollen.

Auch das "Hitler-Syndrom" ist ja nicht durch nachtraegliches Zuschlagen
zu verhindern.  Man weiss im voraus nicht, ob "Notwehr" angebracht ist.
Wenn erst einmal der "Staatsnotstand" erreicht ist, ist es vielleicht
zu spaet.

Es ging mir aber nicht nur um das Hitler-Syndrom sondern darum, dass
der Erhalt der oeffentlichen Ordnung eine Grundaufgabe jedes Staates ist,
die Vorrang vor allen Fragen der Staatsform hat.  Denn wenn ein Staat
mit Staatsform A sie nicht erfuellt, wird er weggefegt, z.B. von einem
Hitler, der ja ueberhaupt erst durch die oeffentliche Unordnung der
Weimarer Republik Zulauf bekam.   Man muss also seine Staatslehre so
anpassen, dass sie geeignet ist, die oeffentliche Ordnung zu wahren.
Ob das mit dem bisherigen liberalen Menschenrechtsverstaendnis auf Dauer
klappt, bezweifeln immer mehr Leute. 

> Der Ansatz zu b) hat den ungeheuren Charme, dass er mit wohlfeilen
> Stammtischspruechen wie "Wir muessen etwas tun, bevor das Kind in den 
> Brunnen gefallen ist" usw. usf. voll kompatibel ist. "Vorbeugen ist 
> besser als heilen" usw. usf. leuchtet jedem DAU sofort ein. 

Nicht alles, was dem DAU einleuchtet, ist falsch.  Der DAU vergisst nur
eben leicht, dass es noch andere Kinder gibt, die man nicht in den Brunnen
werfen sollte, so z.B. die Unschuldsvermutung. 

> Auch wenn man den Praeventivgedanken nicht auf das Tun jedes 
> Einzelbuergers abstellt sondern fordert, der Staat muesse im Rahmen 
> der _repressiven_ Verbrechensbekaempfung weitreichende Vollmachten 
> beispielsweise fuer verdachtsunabhaengige Kontrollen an Bahngleisen, 
> auf Auto- und Datenbahnen aller Art und schliesslich ueberall haben, 
> um die Mitbuerger und Mitbuergerinnen in die Zukunft hinein wirksam 
> schuetzen zu koennen, wird die Gesamtlage nicht besser. Wer mein 
> Gepaeck im Zug verdachtsunabhaengig filzt oder meinen TCP/IP 
> Datenstrom verdachtsunabhaengig einem Screening unterzieht, 
> unterstellt mich einer generellen Schuldmutmaßung, die ich politisch 
> nicht zu akteptieren bereit bin.

Je schlechter die Ordnung wird, umso mehr Leute sind bereit so etwas zu
akzeptieren.  Es waere schade, wenn sofort das Kriegsrecht ausgerufen oder
ein Diktator ermaechtigt werden muss, sobald die versteinerten liberalen
Grundsaetze keine Ordnung mehr gewaehrleisten koennen.  Eine "wehrhafte
Demokratie" ist nach meinem Verstaendnis eine, die zwischen wichtigen
und weniger wichtigen Werten unterscheiden und damit auch rauhe
Zeiten abwettern kann.

> Otto Schily hat diese Ideologie - soweit man das weiss - nicht immer 
> so vertreten. Er ist ein Renegat, der wie viele Renegaten sich als 
> 110%iger Vertreter der nunmehr neu fuer gut und richtig erkannten 
> Lehre profilieren will. Dass er womoeglich intelligenter als Kanther 
> ist, macht die Aussichten fuer den Liberalismus in Deutschland (ich 
> meine mit diesem Begriff ausdruecklich _nicht_ die FDP) nicht besser.

Die Aussichten werden immer dann gut, wenn sich die Ordnung mit den
liberalen Methoden aufrechterhalten laesst.  Dann sehen weniger Leute ein,
dass sie ihren Koffer oeffnen sollten.

Mit dem Liberalismus lassen sich zur Not auch haertere Ordnungsmassnahmen
vereinbaren.  Schwierigere Herausforderungen sehe ich woanders:  bei einer
Marktwirtschaft, die, wie du so schoen formuliertest, "die Unbeholfenheit
des DAU zum Dreh- und Angelpunkt fuer lukrative Monopole macht".  Das
freie Spiel der Kraefte fuehrt zunehmend zu dieser Art von Situation.
M.a.W. der Gott des Liberalismus, die "unsichtbare Hand", ist tot.
Die gefuerchtete sichtbare Hand der Politik muss wohl oder uebel ran.

--
Hartmut Pilch <phm@a2e.de>
a2e Ostasien-Sprachendienste Pilch, Wang & Co 
http://www.a2e.de/oas/, Tel +49891278960-8