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Subsystem-Deskriptivismus



On Tue, 12 Oct 1999, Jens Hoffmann wrote:

> Hi,
> 
> On Mon, Oct 11, 1999 at 11:10:05PM +0200, PILCH Hartmut wrote:
> > > Die reine Lehre der Linguistik teilt sich uebrigens in zwei Lager:
> > > Das deskriptive, beschreibend und das praeskriptive, vorschreibende.
> > 
> > Diese alte Einteilung gilt allenfalls noch fuer Woerterbuecher.  Man kann
> > auch den Aufbau und Verfall von Sprachsystemen sowie die dabei wirkenden
> > Kraefte beschreibend erfassen.
> 
> Nene. Durchaus nicht. Es ist eine unterschiedliche Geisteshaltung.

Eben.

Es gibt auch das Lager der Taxonomiker, die nur solche grammatische
Phaenomene beschreiben, die sich durch einen bestimmten Formalismus (ohne
Bezugnahme auf den Sinn der analysierten Aeusserungen) verifizieren
lassen.

Die Geister scheiden sich vor allem daran, was sie noch als
"wissenschaftlich" zulassen.  Wer dort besonders strenge Massstaebe
anlegt, muss besonders grosse Teile der Wirklichkeit ausklammern.

Die "deskriptiven Linguisten" haben sich entschieden, allerlei Aspekte
auszuklammern.  Deshalb sind diese Aspekte aus ihrer Sichtweise
"praeskriptiv", obwohl man sie genau so deskriptiv angehen kann.
 
> > Wenn bald der Duden seitenweise fast nur noch englische Woerter enthaelt,
> > werden die Leute mit ihrer "deskriptiven Linguistik" noch ziemlich ins
> > Schleudern geraten und sich fragen:  welche Sprache beschreiben wir da
> > eigentlich?
> 
> Exakt das ist ja die Aufgabe der beschreibenden Linguistik ;)
> Sie muss herausfinden, was der "native speaker" denn nun unter
> deutscher Sprache versteht.

D.h. sie erhebt den "native Speaker" zu einer Autoritaet, von der
praeskriptive Gewalt ausgeht.

Es gibt einen aehnlichen Konflikt in der Geschichtswissenschaft.  Die
"Deskriptivisten" nennt man dort "Positivisten".  Sie versuchen nur,
Phaenomene zu beschreiben und wollen sich jeglicher Wertung enthalten.
Gueltig sind fuer sie nur diejenigen Normen, die tatsaechlich von
irgendeiner Gewalt durchgesetzt werden.

Der Positivismus wird in der Geschichtswissenschaft allerdings weitgehend
abgelehnt, denn
(1) die von der Geschichtswissenschaft/Linguistik beschriebenen Phaenomene
    sind Ergebnisse menschlichen Handelns, nicht Natuerereignisse
(2) durch Ausklammerung des ethischen Aspektes entgehen wesentliche
    Erkenntnisse.  Die "Wissenschaftlichkeit" wird dann leicht zu einer
    akademischen Spielerei.  

Letztlich steckt im Deskriptivismus/Positivismus der als "Wissenschaftlichkeit"
verbraemte Unwille, sich zu engagieren.

> > Wenn ein System verfaellt, bedeutet jegliche Weiterentwicklung erst einmal
> > Wahrung.
> 
> Das ist, mit Verlaub, eine seltsame These.
> 
> Gehen wir davon aus, dass das System Sprache nicht zerfaellt

Ich spreche eigentlich von einzelnen Sprachen als Systemen.  Nicht von
einem "System Sprache".

Aber sogar das "System Sprache", was auch immer das sein mag, scheint von
gewissen Verfallserscheinungen betroffen.  Es gibt da einige alarmierende
Buecher aus Amerika, u.a. von Neil Postman.

> (wobei man hier unter Umstaenden tatsaechlich das Subsystem "deutsch"
> verlaesst/erweitern muss).

Du sagst es.  Die Sprachen war bisher autonome Systeme, nicht Subsysteme.  
Und wir verlassen diese Systeme.  Wenn wir "browsable" sagen,
signalisieren wir damit, dass das Ableitungsparadigma "x ==> x-bar" nicht
mehr zuverlaessig funktioniert. Mit jeder "Erweiterung" schraenken wir die
Produktivitaet des deutschen "Subsystems" weiter ein.  Dieses System wird
dann zunehmend redundant, weil wir ja ohnehin das Paradigma "x ==> x-able"
pflegen muessen.

-phm