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Re: [FYI] Zunehmende Internet-Regulierungsphantasien im BMJ



In schulung.lists.fitug-debate you write:
>> Was kann man der Regierung eigentlich empfehlen ?
>Erwerb von Medienkompetenz, Weitergabe derselben.

Das ist es auch, was die Secorvo-Studie empfiehlt, auch wenn es
streckenweise arg verwaessert wird. Die Zwecklosigkeit von
Filtern kommt nicht an allen Stellen ausreichend heraus.

>> Regierung und andere wollen dringend irgendeine Form des
>> Jugendschutzens. Ebenso wollen die Leser dieser Mailingliste
>> kein System, das Zensur durchführt oder möglich macht.

Derzeit ist es so, dass die Regierung, die Schulen und andere
Parteien irgendeine Form des Jugendschutzes wollen MUESSEN. Das
muessen ergibt sich aus der Verpflichtung zum Schutze der
Familie und ist nicht ohne Grundgesetzaenderung wegzukriegen
(wenn man das rechtliche Kapitel aus der Studie mal auf zwei
Saetze kastriert, was der Sache natuerlich nicht gerecht wird).

>Vernünftiger Jugendschutz besteht darin, dass die Jugend den 
>_richtigen_ Umgang mit dem Medium erlernt. Problem hierbei ist: 
>Es muss erst mal jemand da sein, der dies vermitteln kann.
>Die Ersatzhandlung (Filtern auf Teufel komm raus) ist mehr als 
>unzureichend.
>Merksatz: Das Leben selbst ist nicht jugendfrei. Wie kann man 
>dies dann vom Web, dem Spiegel der Gesellschaft, erwarten?

Die ideale Einstellung eines Erziehenden waere akzeptieren, aber
nicht resignieren, naemlich zu akzeptieren und zu erklaeren,
dass es da draussen Dinge gibt, die "wir" nicht gut finden und
"wir" nicht machen und parallel zu vermitteln, warum das so ist
und wie "wir" das machen. Also Leben im Angesicht anderer
Kulturen und Werte (Ja, Sladdi, oder Nicht-Werte. Unsere
Gesellschaft zwingt niemanden zur Kultur - zum Glueck auch nicht
zu "Kult". :-).

Fuer Eltern ist dies rechtlich moeglich, weil sie aus
gesetzlicher Sicht ein Privileg geniessen. Fuer Lehrer, aber
auch fuer Kino- oder Videothekenbetreiber, Betreiber von
Fernsehsendern und andere "lose" in den Erziehungsprozess
eingebundene Personen existiert dieses Privileg nicht. Fuer sie
gelten strengere Massstaebe und das Gesetz _zwingent_ sie,
innerhalb engerer Massstaebe zu diskutieren. Wieder verweise ich
auf das passende Kapitel der Studie und die hier anwesenden
Juristen, die das besser erlaeutern koennen.

Bitte beachte, dass dies zunaechst vollkommen unabhaengig von
der Einstellung der Person oder Institution zu Filtern im
speziellen oder Jugendschutz im allgemeinen ist. Filter werden
hier derzeit nur als Mittel angesehen, eine ziemlich
fundamentale (bis ins Grundgesetz runter) und politisch nicht
opportune Diskussion ueber Werte wie Familie und Jugendschutz zu
vermeiden bzw. die Notwendigkeit einer Systemkorrektur im
Angesicht mittlerfreier Kommunikation wird derzeit bei den
Juristen nicht gesehen.

Eine Moeglichkeit, Filter als notwendige und moegliche Loesung
in Frage zu stellen, ohne die Grundsatzdiskussion zu fuehren,
ist zu zeigen, das Filter als Mittel unwirksam, nicht
verhaeltnismaessig oder unvereinbar mit anderen fundamentalen
Werten unserer Gesellschaft sind. 

Die Fraktion der "unter Handlungsdruck Befindlichen" im
Justizministerium und im Ministerium fuer Jugend, Familie und
Eierkuchen behauptet zunaechst einmal, dass Filter wirksam,
angemessen und prinzipiell nicht unvereinbar mit unserer
Verfassung sind. 

Sie sind sicherlich "wirksam" in dem Sinne, dass sie irgendetwas
filtern und dass einzelne URLs existieren, die mit dem Filter
nicht mehr durch Eingabe der URL in den Browser abrufbar sind.
Sie sind, und das ist sicherlich allen auf dieser Liste klar,
unwirksam in dem Sinne, dass sie dadurch das grundsaetzliche
Aussehen des Netzes fuer den Gefilterten nicht aendern oder das
Internet unbrauchbar machen (je nach Default-Konfiguration des
Filters) und dass sie prinzipbedingt einem Manipulationsversuch
keinen ernsthaften Widerstand entgegen setzen koennen (und es
auch nicht braeuchten, wuerden sie funktionieren).

Sie sind "angemessen" in dem Sinne, dass es sich in
Einzelinstallationen um billige Software handelt, deren
Anschaffung zumutbar ist. Uns ist klar, dass es mit einmaliger
Installation nicht getan ist, dass dabei eine ganze Reihe von
Datenschutzproblemen durch Profiling entstehen, dass sich eine
solche Loesung nicht auf Provider-Backbone-Proxies skaliert und
dass das dann alles gar nicht mehr so zumutbar ist.

Und zu zeigen, dass solche Filter mit anderen Prinzipien unserer
Verfassung nicht vereinbar sind, setzt voraus, dass das "Kind"
an irgendeiner Stelle mindestens einmal in den Brunnen gefallen
ist, d.h. dass zugesicherte Rechte eines erwachsenen oder gar
jugendlichen Nutzers durch Installation und Betrieb einer
Filtersoftware verletzt worden sind, und zwar in einer
prinzipiellen Weise, die die Filterung grundsaetzlich in Frage
stellt. 

Zum Beispiel wuerde die Argumentation "bei third party rating
mit einer Online-Datenbank der Labels fallen beim Labelling
Bureau vollstaendige URL-Traces des Netznutzers an und das
verstoesst gegen mein Grundrecht auf informationelle
Selbstbestimmung" dies nicht knacken, weil man dann schlicht
rechtlich festlegen wuerde, dass solche Datenspuren nicht
gespeichert werden duerfen - das Grundrecht gibt einen Zwang zur
Datensparsamkeit und damit zur Abschaffung von Filtern, die mit
dieser Systematik arbeiten nicht her, zumindest nicht
unmittelbar (Es wird die Verwendung von state-of-the-art Technik
verlangt, was immer das in diesem Fall bedeutet).

"Informationsfreiheit" bedeutet nur, dass Du empfangen darfst,
was Du schaffst zu empfangen, wenn ich das richtig verstanden
habe, und gibt hier auch nichts her.

>Natürlich kann man den Header mit verschiedenen Meta-Tags 
>vollpfropfen, aber - wer von den Anbietern 'entsprechender Seiten' 
>wird dies schon tun, da dies deren Hauptintention völlig 
>widerspricht?

Einige Anbieter von Webseiten, die Jugendliche als Zielgruppe
haben, tun dies schon jetzt. Auch am anderen Ende des Spektrums
wird es von einigen Anbietern angewendet. Die generischen
Beispiele sind in allen Dokumentationen immer http://www.disney.com

<META http-equiv=PICS-Label content='(PICS-1.1 http://www.rsac.org/ratingsv01.html l gen true r (n 0 s 0 v 0 l 0))'>

und http://www.playboy.com:

<META HTTP-EQUIV="PICS-Label" content='(PICS-1.1 "http://www.rsac.org/ratingsv01.html" l gen true comment "RSACi North America Server" for "http://www.playboy.com" on "1996.05.04T06:51-0800" r (n 4 s 3 v 0 l 4))'> 
<META HTTP-EQUIV="PICS-Label" content='(pics-1.1 "http://www.classify.org/safesurf/" l gen t for "http://www.playboy.com/" r (ss~~000 6 ss~~100 1))'>

Auf http://www.msn.de nutzt man den Nachrichtenvorbehalt. Weil
es News sind, gilt fuer den ganzen Server

<META http-equiv=PICS-Label content='(PICS-1.1 "http://www.rsac.org/ratingsv01.html" l comment "RSACi North America Server" by "inet@microsoft.com" r (n 0 s 0 v 0 l 0))'>

Keine solchen Labels befinden sich bei den Filterbefuerwortern
im http://www.bmfsfj.de/ oder http://www.bmj.bund.de/. Ein
Schelm, wer Boeses dabei denkt...

>Und Zwangsproxy kommen nicht in Frage. Dann könnten wir ja 
>gleich die chinesische Flagge hissen.....

Derzeit gibt es eine grosse Anzahl von vollkommen
unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen, die ein Interesse
daran haben, mittlerfreie Kommunikation zu verhindern und
Einfluss auf die Erreichbarkeit spezifischer Inhalte durch
Bundesbuerger zu nehmen. Eine Liste von Gruppen und Gruenden
habe ich ja in einem anderen Artikel versucht zusammenzustellen.

Es waere unter Umstaenden nuetzlich herauszuarbeiten, welche
Grundsaetze einem Buerger dieses Landes das Recht geben, ohne
Einbeziehung eines Mittlers Kommunikationspartner zu finden und
ohne Einbeziehung einer dritten Partei mit diesem Partner zu
kommunizieren. Inwieweit wird mittlerfreie Kommunikation durch
unsere Verfassung geschuetzt oder garantiert, inwieweit gibt es
ein Recht auf Eindringen oder Kontrolle von Kommunikation zweier
Parteien durch Dritte. Inwiewie gibt es ein Recht auf die
Verfuegbarkeit mittlerfreier Kommunikation?

Ist es rechtlich derzeit unmoeglich, Zwangsproxies fuer Web, fuer
Mail, fuer Irc, fuer whatever zu verordnen? Ist es rechtlich
derzeit unmoeglich, anonyme Kommunikation zu verbieten? Wenn ja,
auf welcher Grundlage und welche anderen Rechtsgrundsaetze
stuenden dem entgegen?

Software automatisiert Prozeduren und macht so Expertenwissen
mit einer bunten Oberflaeche versehen fuer jedermann angepackt
zugaenglich. Dadurch werden Kommunikationsmodi, die vorher nur
kleinmassstaeblich und unter Aufwand verfuegbar waren, breit und
breitbandig verfuegbar. Dies hat Auswirkungen auf die Juristerei
und zwar in dem Sinne, dass Gueterabwaegungen in einigen Faellen
schwerer oder gar unmoeglich werden - wir hatten solche
Diskussionen schon im Kielwasser der Kryptodebatte, als es um
"ein bischen knackbare Verschluesselung" ging.

>NAK. Natürlich wird auch der 'normale' Benutzer erheblich 
>beeinträchtigt werden, denn wie willst Du den 'unnormalen' vulgo 
>nicht berechtigten (jugendlichen?) Benutzer vom 'normalen' 
>Benutzer unterscheiden?

Indem ich - so einige Ueberlegungen beim BMJ - den nicht
authentisierten Zugriff auf Kommunikationsressourcen verbiete.
Will sagen, indem ich anonymen Netzzugang unmoeglich mache oder
zumindest rechtlich unterbinde.

Auch die Secorvo-Studie diskutiert dieses Thema, wenn auch unter
einem anderen Aspekt. Da fuehrt man den Gedanken der
Faelschbarkeit von Labels zu Ende und diskutiert auch, wie man
Zwangsmassnahmen gegen Ersteller von Informationen durchsetzen
koennen, die sich weigern ihre Seiten mit einem korrekten Rating
Label zu versehen, unter der Voraussetzung, dass ein solches
Label verpflichtend ist, oder verpflichtend korrekt sein muss,
falls es vorhanden ist.

In der Secorvo-Studie wird in einem solchen Fall vorgeschlagen,
dass eine "Billig"-PKI aufgebaut wird und dass jeder Anbieter
von Informationen im Netz ein zu dieser PKI kompatibles Cert
haben muss. PICS-Labels muessen dann mit einem Hash an dem
Inhalt verankert werden, den sie raten und Label plus Hash mit
dem Cert digital signiert werden. Auf diese Weise bekommt die
zustaendige Aufsichtsbehoerde eine Liste aller Publizierenden
und kann durch Revokations von Certs Druck auf diejenigen
Publizierenden ausueben, die die Certs inkorrekt anwenden
(natuerlich wuerde ein Rueckruf des Certs ganz anderen Druck
ausueben, wenn zwar das Cert korrekt verwendet wuerde, aber die
Inhalte jemandem nicht gefallen). Essentiell kommt dies einer
Anmelde- und Genehmigungspflicht von "Sendern" im Netz gleich.

Das "Billig" steht da oben nicht ohne Grund in
Anfuehrungszeichen. Was kostet die Erstellung eines einzelnen
Certs, wenn man den Nutzer zuverlaessig identifizieren muss,
mehrfach ausgestellte Certs verhindern muss und vom Erhalt eines
Certs dauherhaft ausgeschlossene Personen ausschliessen moechte?
Mit wievielen Certs muss man das multiplizieren? Wo werden die
Kosten fuer stichprobenartige Kontrolle der Inhalte auf korrekt
Anwendung der Labelling-Richtlinien verbucht? Wir reden hier
ueber Betraege im Bereich von Millarden Euro! Fuer den
Jugendschutz alleine ist das nicht gerechtfertigt, aber
vielleicht sind ja WIPO und IFPI bereit, einen Teil der Kosten
zu uebernehmen, wenn diese Infrastruktur auch fuer ihre Zwecke
einsetzbar wird - was prinzipiell machbar waere.

>Wer sich freiwillig einem Zwangsproxy unterwirft, macht sich von 
>der Willkür dessen Betreibers abhängig. Umgekehrt macht sich der 
>Betreiber eines Solchen die durchgeleiteten Inhalte zu Eigen, d.h. 
>übernimmt damit eigentlich eine redaktionelle Verantwortung und 
>könnte damit ggf. belangt werden (juristischer Hintergrund?).

Der Aspekt mit dem "sich durchgeleitete Inhalte zu eigen machen"
ist in der derzeitigen Diskussion noch nicht ausreichend
ausgespielt worden. Ueberhaupt kommen Haftungsfragen in der
derzeitigen Diskussion ueber Filtern und Rating kaum oder gar
nicht vor. Das finde ich sehr ungewoehnlich, aber vielleicht
aendert sich das dann, wenn irgendwo irgendein RPS das Geschaeft
von Dr. Dre schaedigt, weil seine Stuecke nicht downloadbar und
damit nicht kaufbar waren, weil sie angeblich illegale Samples
anderer Stuecke enthielten und ein Filterbetreiber die Dateien
deswegen vorsorglich gesperrt hat.

Nimmt man Filter als grundsaetzlich wirksam an, dann bedeuten
Filter und Kontrolle ueber Filter bedeuten Kontrolle ueber die
Metaebene einer jeden (politischen) Diskussion. Vielleicht
aendert sich die Einstellung zu Filtern in der Oeffentlichkeit
auch erst dann, wenn unsere Regierung (welche auch immer es zu
diesem Zeitpunkt dann sein mag) "aus Versehen" missbeliebige
Berichte ueber nicht den Genfer Konventionen entsprechende
Zielauswahl der Nato in <insert your favorite krisenherd>
filtert. Falls eine Diskussion ueber Filter in einem solchen
Netz zu diesem Zeitpunkt dann noch moeglich ist. Ich persoenlich
wuerde lieber riskieren, dass meine Kinder im Netz auf nackte
Frauen und Hakenkreuze stossen koennten, als in einer solchen
Welt zu leben.

Kristian