[Date Prev][Date Next][Thread Prev][Thread Next][Date Index][Thread Index]

Modernisierte Meinungskontrolle



Christian Gizewski, Berlin,
TEL, AB und FAX: 030/8337810,
EP: [gizeoebg@linux.zrz.tu-berlin.de],
WWW-Seite: [http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW].

In diesen Tagen fand unter verschiedenen mehr oder weniger zufällig
erreichten
Ansprechpartnern aus dem Umkreis des Vereins 'europa-club' und der
Zeitschrift
'europa dokumentaro', hg. von Herrn Prof. Dr. Siegfried Piotrowski,
ansatzweise eine
Internet-Diskussion über kritische Aspekte der 'Bürgerinitiative N@IIn
e. V.' statt, an
der sich u. a. beteiligten: Herr Regenbrecht für den Verein N@IIN, Herr
Piotrowski
für die Zeitschrift 'europa dokumentaro', Herr Freude, Herr Helborg,
Herr Pilch, Herr
Rybak, Herr Welger und ich.

Damit diese Diskussion in einem größeren, an Fragen der
'Kommunikationskultur und
-freiheit'  interessierten Kreise und in erleichterter Form stattfinden
kann, schlage ich
vor, daß sie von den bisherigen Diskutanten und weiteren Interessierten
auf folgenden
Foren wiederholt bzw. fortgeführt wird:

europaklub@kbx7.de
und
logsys-de@ffii.org .

Beide Foren widmen sich ihrem Selbstverständnis nach Fragen der
Sprachpflege und
Sprachpolitik i. w. S., sind nicht politisch-parteigebunden und in der
anstehehenden
streitigen Sache thematisch-unbegrenzt diskussionsoffen, wie ich von
ihren
Veranstaltern auf Nachfrage erfuhr; sie  legen allerdings auf eine
nicht-persönliche,
themenbezogen-sachliche und internetangemessen möglichst kurze
Argumentation
Wert. Sie stellen sich darauf ein, daß im Diskussionsprozeß
unterscheidliche politische
Positionen und sogar Frontbildungen zum Ausdruck kommen können. Einer
Zensur
findet auf ihnen nicht statt. Eine Anzahl weiterer Foren kommen jetzt
oder künftig für
diesen Zweck gleichfalls in Frage. Ich schlage vor, für den Zweck einer
möglichst
vereinfachten, allseitig und komplett zugänglichen Diskussion sich
wenigstens bei den
beiden genannten Foren anzumelden und sie ggf. gleichermaßen mit
identischen
Diskussionsbeiträgen zu bedenken. Auf diese Weise wird das Versenden
elektronischer
Briefe an immer größer und unübersichtlicher werdende Adressenlisten
vielleicht
unnötig.
Ich eröffne die Diskussion an dieser Stelle mit einer nochmaligen
Wiedergabe der
Erklärung der Zwecke und Verfahrensweisen des Vereins N@IIN e. V. durch
Herrn
Regenbrecht vom  25. Jan. 2001, dessen Einverständnis ich voraussetze,
da er sich
öffentlich äußern wollte, und antworte darauf mit einem eigenen Beitrag.
Ich hoffe, daß
die bisherigen Diskutanten ihre Beiträge in alter oder verbesserter Form
an dieser Stelle
ebenfalls neu einstellen, und weitere substanzielle Diskussionbeiträge
anderer folgen.

Christian Gizewski

------------------------------------------------------

Die Stellungnahme Herrn Regenbrechts vom 25. Jan. 2001 hat folgenden
Wortlaut:

"Wir halten das Thema Zensur und Meinungsfreiheit für außerordentlich
wichtig,
tatsächlich betrifft es unsere tägliche  Arbeit. Zunächst sei trotz
Ihrer Bedenken gesagt:
wir stehen voll hinter dem, was naiin e.V. will. Man kann das Anliegen
von naiin
vielleicht in einem Satz zusammenfassen (so hat es unser Vereinsmitglied
Andreas
Nachama,  der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde Berlins, formuliert):
Wir wollen,
dass das Grundgesetz auch im Internet gilt.

Auf der Homepage von naiin ist eine  Meldestelle eingerichtet, wo jeder
rechtsextremistische Seiten melden kann. Diese Seiten werden dann
geprüft und
gegebenenfalls dem zuständigen Provider oder auch der Polizei oder dem
Verfassungsschutz gemeldet.Dabei stellt sich die Frage, was heißt
gegebenenfalls, nach
welchen Kriterien wird hier entschieden?

Über das Ausmaß von Meinungsfreiheit gibt es sehr unterschiedliche
Auffassungen. In
den USA beispielsweise ist das Recht auf Meinungsfreiheit sehr weit
gefasst, jeder darf
dort die Existenz des Holocaust leugnen, darf Hakenkreuze zeigen und
darf
nationalsozialistische Parteien betreiben und die entsprechenden
Positionen verbreiten
(s.z.B. Gary Lauck). Hier in Europa, speziell in Deutschland, ist man
anderer
Auffassung, und wir sind das auch: die Meinungsfreiheit ist ein sehr
hohes
demokratisches Gut, das aber bestimmte Grenzen hat. Um diese Grenzen
nicht
selbstherrlich und willkürlich zu ziehen, orientiert sich naiin
tatsächlich am deutschen
Strafrecht (das nach allgemeiner Auffassung konform mit unserem
Grundgesetz ist).
Dabei gilt unsere Aufmerksamkeit vor allem folgenden Fällen: Verbreitung
von
Propagandamitteln, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger
Organisationen, Androhung von Straftaten, Unterstützung einer
terroristischen
Vereinigung, Volksverhetzung, Beschimpfung von Bekenntnissen,
Beleidigung,
Verleumdung. Nur solche Seiten, in denen ausdrücklich solche Dinge
vorkommen,
werden nach unseren Möglichkeiten bearbeitet: d.h. die Provider werden
um
Abschaltung gebeten (die größten Provider sind Mitglied bei naiin)
und/oder die Seiten
werden den zuständigen Behörden gemeldet. Solche Seiten dagegen, die
zwar eine
rechte Gesinnung, aber keine strafrechtlich relevanten Inhalte
aufweisen, sollen
natürlich existieren können. Bildlich gesprochen: Wir wollen niemanden
verurteilen,
nur weil er Bomberjacke und Springerstiefel trägt, aber wenn er auch
noch
Hakenkreuze trägt und Andersdenkende verprügelt, wollen wir uns
einmischen.

Das Selbstverständnis von naiin umfasst unter anderem auch noch den
Gedanken der
Freiwilligen Selbstkontrolle der Internetcommunity, so wie er in anderen
Medien z.B.
in der Film- oder Buchbranche seit Jahrzehnten existiert. Jeder Kinofilm
in Deutschland
hat eine Altersbegrenzung, und bestimmte exzessive Videos sind gar nicht
beziehbar.
Wir meinen, dass es im Internet etwas ähnliches geben sollte, und in
diese Richtung
bemühen wir uns. Entsprechend geht es nicht nur um Rechtsextremismus,
sondern
auch um Kinderpornographie, extreme Gewalttätigkeit usw., insgesamt eben
wollen
wir “no abuse in internet".

Wir möchten aber auch weiterhin einen kritischen Dialog zum Thema Zensur
und
Meinungsfreiheit führen, dies geschieht vereinsintern in einer
Arbeitsgruppe, und auf
unserer  Homepage wird demnächst ein Diskussionsforum eingerichtet.
Über Antworten oder Stellungnahmen würde ich mich freuen und verbleibe
mit
freundlichen Grüßen, i.V. Martin Regenbrecht"

------------------------------------------------

Auf Herrn Regenbrechts Erklärung möchte ich wie folgt anworten:

In der Bundesrepublik Deutschland gibt es bedauerlicherweise eine
wachsende
Bereitschaft staatlicher Organe, mit Hinweis auf verschiedenartig
definierte prioritäre
staatliche Ziele die Freiheit der Internet-Kommunikation durch
systematische
Überwachung des Internetverkehrs nachhaltig einzuschränken und damit in
ähnlicher
Weise illegitim die freiheitsbezogen grundlegenden Handlungsgrenzen
staatlicher
Regierungstätigkeit zu überdehnen wie bei der - von staatlicher Seite
zugestanden -
ständig zunehmenden Telephonkontrolle.

Deutlich wird dies u. a. an dem in der Internet-Zeitung 'Telepolis'
unter
http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/4377/1.html am 1.12.2000 von
Florian Rötzer
verbreiteten, mit wertvollen Detailhinweisen belegten Bericht
"Datenschutzbeauftragte
protestieren gegen die Umwandlung des Internet in ein 'Fahndungsnetz'".
Dem Hg.
dieser WWW-Seite ist weder durch seine Beobachtung des Fernsehens noch
durch
Zeitungslektüre irgendein Hinweis auf diesen doch sehr zum Nachdenken
über die
Freiheitlichkeit unserer politischen Ordnung nötigenden Protest
kompetenter - und
sogar staatlich eingesetzter - Beauftrtagter für den Datenschutz bekannt
geworden.

Eine weitere, unter dem Aspekt der Freiheit des Internetverkehrs
besorgniserregende
Einrichtung sind formell 'privatrechtlich' organisierte Einrichtungen
oder auch
'Bürgerinitiativen', die anstelle des Staates oder anderer noch weniger
legitimierter
Mächte, aber in erkennbar informeller Zusammenarbeit mit ihm oder ihnen,
umfassende
Ausforschungsaufgaben im Internet übernehmen oder faktisch übernehmen
können.
Abgesehen von der beträchtlichen Machtanmaßung, die darin liegt und in
sich einen
Unwert darstellt, sind solche Organisationsformen prinzipiell nicht
öffentlich und auch
nicht rechtsstaatlich genug aufgebaut, um - selbst bei an sich legitimen
Zielsetzungen
-Mißbrauchsmöglichkeiten verschiedener Art auszuschließen.

Eine insoweit problematische - im Gegensatz zu anderen anzunehmenden
allerdings
öffentlich hervortretende - Einrichtung ist auch der im August 2000
gegründete Verein
"N@IIN" e.V. (No abuse in internet e.V.; http://www.naiin.de/). Dieser
Verein
versteht sich als politische 'Bürgerinitiative'. Er verfolgt das Ziel
einer aktiven,
privatrechtlich organisierten Netzkontrolle.

Der satzungsmäßige Zweck ist wie folgt formuliert: " Gemäß der
vorläufigen Satzung
von N@IIN e.V. ist es der Zweck des Vereins, "sittenwidrige oder
rechtswidrige,
insbesondere verrohend wirkende, zur Gewalttätigkeit, Verbrechen oder
Rassen-
und/oder Minderheitenhaß anreizende Inhalte im Internet aufzudecken und
hiergegen
geeignete Maßnahmen zur freiwilligen Selbstkontrolle der
Internetcommunity zu
entwickeln und Umsetzungsmöglichkeiten aufzuzeigen." - Die Initiatoren
machen sich
aber wohl trotz oder möglicherweise gerade wegen ihres
politisch-ideellen
Engagements - darauf deutet die Offenheit ihres Verhaltens hin - nicht
ausreichend klar,
daß es nicht Sache eines moralisch und politisch legitimen
Bürgerengagements sein
kann,
a) bei der Verfolgung wichtiger - ja selbstverständlicher - Ziele
zugleich auch an der
Errichtung einer Art politischer Zensur im Internet mitzuwirken,
b) die politische Auseinandersetzung mit einer Gegnerseite in
erheblichem Maße auch
demagogisch zu führen (z. B. mit öffentlich-argumentativ
unverantwortlichen
'gleitenden' Gleichsetzungen nach dem Schema 'Rechts' =
'Rechtsradikalismus' =
'Rechtsextreminsmus'.),
c) mit moralisch sinnvollem Tun zugleich u. U. auch denunziatorische
Hilfsdienste für
Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft oder gar andere Formen der
Denunziation zu
verbinden, und
d) sich nicht ein ausreichendes Maß an Kritik gegenüber Strafgesetzen zu
bewahren,
die in verschiedenen Aspekten heute durchaus auch
gesinnungsstrafrechtlichen
Charakter haben und daher - weit über ihr deklariertes Ziel hinausgehend
- Gefahren für
die allgemeine Geistes- und Meinunsgäußerungsfreiheit mit sich bringen.

M. a. W: die Initiatoren sollten auch die sog. 'Nebenfolgen' ihres Tuns
in aller
Konsequenz bedenken - für Demokratie, öffentlichen Argumentationsstil
und die
Freiheit der offentlichen Meinung. Es geht hier - wie auch in anderen
Fällen
gegenwärtiger politischer Korrektheitskampagnen (z. B. bei der
offenkundigen und
beträchtlichen Fehlleitung der 'öffentlichen Meinung' im 'Fall Sebnitz',
Ende d. J.
2000) öfters nachweislich wurde - nicht nur um etwas 'unbezweifelbar
Gutes', sondern
auch um ein unter ungünstigen Umständen unverantwortlich blind und
unverständig
machendes Maß an politischer Saubermannsselbstgerechtigkeit, um
tendenziell
gouvernantenhafte, kleinkarierte Gesinnungsausforschung und um
bedenklich
ungehemmte Einseitigkeit in der politischen und moralischen
Urteilsbildung und
Rhetorik. Ich fordere aus diesen Gründen dazu auf, zu solchen
Aktivitäten Distanz zu
wahren und sich an die üblichen und freiheitlich-verfassungsmäßig
akzeptablen Formen
politischer Auseinandersetzung und strafrechtlicher Verfolgung zu
halten, wo das nötig
ist.

Auch andere europäische Staaten und die 'Europäische Gemeinschaft
bewegen sich
teilweise in die Richtung einer umfassenden, Kommunikationsinhalte
systematisch
überprüfenden Netzkontrolle. 'Kinderpronographie', 'Terrorismus',
'Rassenhaß' und
andere generell unbetreitbare Übel fungieren dabei bedauerlicherweise
als
öffentlich-argumentative Basis für den versuchten Aufbau umfassender
Fahndungsrastersysteme, deren gefährliche Tendenz zur mißbräuchlichen
oder auch -
dies ist noch nicht klar - geplanten Ausweitung auf die Allgemeinheit
des
Kommunikationsverkehrs bereits jetzt im internationalen Vergleich
deutlich wird.
Bei der Beurteilung solcher Neubildungen staatlicher und parastaatlicher
Kontrolle
müssen andere Momente der politisch-medialen Gegenwartsentwicklung m. E.

ebenfalls kritisch einbezogen werden. Dazu gehören auch koordinierte
Pressekampagnen 'gegen Rechts' oder Verbotsanträge gegen politische
Parteien wie dei
NPD, an denen es nicht wenug zu kritisieren gibt. Sobald sinnvoll, werde
ich zu diesen
Punkten unter dem Aspekt einer  generell bedrohten institutionellen
Meinungsfreiheit
später eingehend Stellung nehmen.

Ich darf Interessenten vorläufig auf meine Netz-Seite
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/Aktion.htm und speziell
auf
http://www.tu-berlin.de/fb1/AGiW/Cricetus/SOzuC1/VsINKo.htm hinweisen.

Christian Gizewski, 29. Jan. 2000