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Der Schrift fehlen die Farbpigmente von Bananen (was: Dem Internet ist es egal...)



Bodo Moeller schrieb:

>Nach Jan Tschichold sollte selbst auf Hervorhebungen durch
>Kursivschrift möglichst verzichtet werden, gute Schriftsteller hätten
>diese nicht nötig: Die geeignete Formulierung soll ohne derartige
>Hilfmittel für sich selbst sprechen. _Diese_ Krücke ist -- anders als
>die neuartigen ASCII-Smileys -- weithin akzeptiert. (Und gegen
>Satzzeichen wie "?", "!" hat wohl erst recht niemand etwas.)
>
>Die Unterschiede zwischen der Smiley-Thematik und der Kursivdruck-
>Thematik sind nur graduell, das zugrundeliegende Problem ist das
>gleiche: Die Schrift soll einerseits benutzt werden, um gesprochene
>oder zumindest potentiell gesprochene Sprache in einem anderen Medium
>festzuhalten; andererseits fehlen aber der Schrift etliche
>Ausdrucksmittel, die beim Sprechen zur Verfügung stehen (Betonung,
>Tonfall, Geschwindigkeit, Tonhöhe ...). Also schafft man sich Ersatz:

Ja. So sehr im Ergebnis die Tschicholdschen Regeln ergonomisch
stimmen - das Schriftbild soll sich nicht aufdraengen, sondern wie
Sprechen leicht eingaengig sein, quasi das Lesen vergessen machen -
so falsch ist die Voraussetzung, Schrift enthalte gesprochene
Sprache. Geschrieben-schriftliche Kommunikation ist keine
gesprochene-Laut-Kommunikation. Und fuer das Gelingen von
Kommunikation fehlt der Schrift deshalb auch nichts. Oder wenn man
darauf besteht, der Schrift ginge gegenueber dem Gesprochenen etwas
verloren, so fehlt der sprachlichen Kommunikation gegenueber der
schriftlichen ungleich mehr: Es fehlt die Distanzierung/
Dekontextualisierung von dem jeweiligen Sprecher und der jeweils
konkreten Situation. Ein Autor eines oeffentlichen Postings/
Artikels/ Buchs schreibt fuer den verallgemeinerten Leser in der
Zukunft und muss sein Thema so waehlen, dass der spezifische Kontext
allgemeinverstaendlich wird. Das verlangt eine ungeheure
Abstraktionsleistung seitens der Autoren. Mit der Schrift erst
entstanden dann Organisationen, also sozial unwahrscheinlichere
Aggregationen als blosse Interaktionssysteme, in denen Menschen sich
begegnen. Und erst mit Schrift kann, auf die Spitze getrieben, eine
entwickelte, verallgemeinerungsfaehige, entsubjektivierte (und
deshalb: maschinisierbare) Logik entstehen, die sich an sich selbst
haelt.

>Sobald man mit Fragezeichen, Ausrufezeichen, Gedankenstrichen und
>Anführungszeichen einen gewissen Grundvorrat an Werkzeugen hat, ist
>die Betonung das, was am meisten vermisst wird; sie wird deshalb
>mittels Hervorhebung in der schriftlichen Darstellung gekennzeichnet.
>[Zutreffendes geloescht]
>   In fast jeder Hinsicht gilt also, dass E-Mail und Usenet dichter an
>die gesprochene Sprache heranrücken als die Papiermedien (es geht also
>gewissermaßen "back to the roots"). Damit ist es auch kein Wunder,
>dass man in diesen neueren Medien beim Nachahmen der Ausdrucksmittel
>der gesprochenen Sprache weitergeht als vorher. Die jeglicher

Solche Markups deshalb als ein Back-To-The-Roots zu lesen, greift
trotzdem zu kurz. Das bezeichnet das Alte am Neuen. Mailkommunikation
ist keine gesprochene, sondern eine verschriftlichte Kommunikation.
Jeder Versuch, Sprech-Authentizitaet zu simulieren, bleibt Simulation
und Inszenierung (und wirkt deshalb auf mich obendrein oftmals
unangenehm distanzlos und manchmal schlicht etwas bloede) und wird in
Konfliktsituationen beargwoehnt. Meiner Ansicht nach scheinen in
solchen Markups zugleich, und das koennte das Neue am Neuen sein, zum
ersten Mal operative "Regieanweisungen" fuer
Textbeobachtungsmaschinen auf, etwa fuer tatsaechlich brauchbare
Abstract-Generatoren, denen mit Markups zusaetzliche Struktur zur
Semantikanalyse dreingegeben wird.

>Formulierkunst entbehrende Silbe "hmmm" lässt sich bei akustischer
>Kommunikation durch unterschiedliche Aussprachemöglichkeiten mit
>etlichen verschiedenen Bedeutungen einsetzen (und für manche Zwecke
>kommt man auch ganz ohne Laute aus), und auch bei vollständigen
>gesprochenen Sätzen kann ein gehöriger Teil der Bedeutung im Tonfall
>versteckt sein. Sobald solche Äußerungen in Lettern zerlegt werden,
>gehen diese Facetten verloren. Manche davon lassen sich mit Emoticons

Ja, diese Facetten gehen zum Glueck fuer moderne Gesellschaften
verloren, da moderne Gesellschaften sich eben nicht nur nach dem
Schema von Interaktionssystemen organisieren, in denen einige wenige
Menschen miteinander zu tun haben und sensibel die verschiedenen
Modulationen von "hmmms" wahrnehmen. Der Gewinn an Binaritaet, also
an zugespitzter Entscheidbarkeit, die durch Schrift moeglich wird,
ist als Gewinn zu formulieren. Und dieser Gewinn ist
steigerungsfaehig...

>...
>In Mail und News haben Smileys also durchaus ihren Sinn (bei IRC
>und talk erst recht).

Ja. Ein hohes Smiley-Aufkommen ist ein Indikator fuer
Interaktionssimulation, im IRC findet man Sprech-Not-Texte. IRC wird
deshalb sterben, sobald Bandbreite fuer Videokonferenzen zur
Verfuegung steht. Video-Mails und Text-Mails werden vermutlich
nebeneinander bestehen bleiben, je nach Textsorte. Diskussionen etwa
in Mailinglists werden dagegen verschriftlicht bleiben, weil
argumentative Figuren im Schriftmedium aneinander schaerfend ungleich
komplexer, genauer, optionenreicher, konfliktheischender, rationaler,
wieder-holbar... anschliessen koennen. Dort wirken derzeit nicht nur
Smiley deplaziert, sondern fuer mein Empfinden sogar Ausrufezeichen
oder Grossschreibung. Allerdings ueberaus funktional waeren solche
Markups, die haertere Diskursanweisungen enthielten als die
derzeitigen Interpunktions-, Textauszeichnungs- und
Textstrukturierungsregeln, wie zum Beispiel Markups fuer: Dies ist
eine These, dies eine Induktion/ Deduktion/ Abduktion dieser These,
dies ein Beispiel, eine Anekdote, usw. Die Evolution von Texten/
Diskursen waere zugleich kontrollierter und kontingenter als bisher,
weil das Aufloesungsniveau von Anschluessen ungleich feiner getrimmt
werden kann. Und den Textbeobachtungsmaschinen, die man als
Informationsarbeiter zukuenftig benutzen muss, muss man zugleich 
entgegenkommen, wenn man "intelligente" Ergebnisse haben will.

Gruss, Martin
-- 
Martin Rost - http://www.netuse.de/~maro/ - Germany, Kiel