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Re: Die Zukunft des Internet-Musikmarktes



On Fri, 19 Mar 1999, Janko Roettgers wrote:

> > ohne recht qualvolle Durststrecken geht nichts.  
> 
> Bitte streiche das qualvoll. Qual faengt meist da an, wo das Handeln 
> nicht aus eigenem Antrieb erfolgt, sondern erzwungen wird. Sobald das 
> (selbstbestimmte) Ziel vor Augen liegt, bekommt auch die Durststrecke 
> Sinn. 

Paedagogik, die ohne Qual auskommt, ist sicher anspruchsvoller.  Wer Qual
einkalkuliert, ist vielleicht nur ein traeger, selbstgerechter Paedagoge. 
Aber wieviele Paedagogen koennen ein Kind wirklich befaehigen, Ziele
sinnvoll selbst zu bestimmen?  Zu hohe Ideale fuehren leicht zu
schlechteren Ergebnissen. Ein wenig Qual ist vielleicht dann in
Wirklichkeit der bessere Kompromiss. Ich komme hier wieder zu "der Erfolg
liegt im Pudding" --- "Praxis ist das einzige Kriterium zum Erproben der
Wahrheit" ... und gehe diese Liste wieder auf die Nerven. 

> Hab ich leider nicht gelesen. Zu Edutainment faellt mir allerdings 
> die Position Seymour Paperts (MIT) ein, die da singemaess lautet: 
> Klassisches Edutainnment funktioniert nicht, weil es Kids fuer dumm 
> verkauft. Weil es so tut, als koennte man das Pauken hinter bunten 
> Bildern versteckecken. Und weil die Kids so doof eben doch nicht 
> sind.
> 
> Sattdessen sollte Edutainment Kids dazu bringen, aus eigenem Antrieb 
> eigene Projekte zu zu realisieren, die ernst genommen werden koennen. 
> Und sie somit dazu bringen, bestimmte Sachen lernen zu wollen (z.B. 
> Programmieren), weil sie es zur Loesung ihres Problems brauchen. 
> Durststrecken gibts dabei sicher auch, qualvoll muessen sie aber 
> nicht sein.

Eine gute Denkweise.  Nur fehlt noch die gute Umsetzung im Musik-Bereich.
 
> Aus meiner eigenen Erfahrung moechte ich behaupten, dass die 
> MIDI-Freaks  schnell ein viel groesseres musikalisches Wissen 
> erwerben als Kids, die zum Mitspielen im Orchester genoetigt werden, 
> damit die liebe Verwandtschaft zwei Mal im Jahr zum Konzert gekarrt 
> werden kann.

Klar, dass alles besser wird, was durch Eigenantrieb zustande kam.  Leider
kommt aber in vielen Faellen durch Eigenantrieb nichts zustande, besonders
wenn die Umgebung 1000 Anreize zur Passivitaet bietet. 

Ich kenne noch keine MIDI-Freaks, dafuer viele Orchesterinstrumente-Freaks
(bin ich auch selber noch, obwohl anfangs oft Noetigung im Spiel war).

[Kommandozeile als Grundlage von Computervirtuositaet?] 

> Nicht besonders effektiv? Nun, GUIs ermoeglichen ein solches 
> Improvisieren. Und damit auch einen ganz anderen Begriff von 
> Virtuositaet. Naemlich einen, der spielerisches Ausprobieren 
> einschliesst, und nicht auf linearer/hierachischer Wissensvermittlung 
> fusst. Auch hierzu empfehle ich die Lektuere von Seymour Papert und 
> auch seiner Kollegin Sherry Turkle.

Musikalische *Interpretatenvirtuositaet* erfordert ein Medium, das eine
simultane Zuordnung von Koerperbewegungen zu Klangeffekten ermoeglicht.
Das bietet die Kommandozeile natuerlich nicht.  Kommandozeile und
Sprachsyntax koennen aber *Komponistenvirtuositaet* ermoeglichen.

Virtuositaet ist etwa das was in Zhuangzi (Chuang-Tzu, daoistischer
Klassiker) am Beispiel eines Rinderschlaechters Bao Gong beschrieben wird: 
er setzt sein Messer an den richtigen Stellen des Rinderkoerpers so an,
dass das Rind auseinanderfaellt, ohne dass das Messer irgendetwas
beruehrte, und dass das Messer dabei noch diverse musikalische Stuecke
auffuehrt, wie sie sich eben unmittelbar aus dem Metzger uebertragen.
D.h. voellige Selbstvergessenheit, zum Medium werden.

Man kann sowohl Kommandos in dieser Weise beherrschen als auch seine
Haende so konditionieren.  Ich habe diese Erfahrung gluecklicherweise beim
Cellospielen selber.  Dabei gibt es keine Handpositionen und keine Noten,
nur ein unmittelbares Sich-Ereignen von etwas Unvorhersehbarem.

Wenn Zuuangzi heute gelebt haette, haette er Bao Gong vielleicht als einen
Mausklicker beschrieben, und wir waeren sehr ueberrascht.  Denn ich kann
mir sogar die virtuose Beherrschung eines Schlaechtermessers noch viel
eher vorstellen als die einer Maus.  Bei letzterer klebt man mit den Augen
am Bildschirm, egal wie lange man geuebt hat.

> Um bei der Musik zu bleiben: Ich kann es niemandem veruebeln, lieber 
> mit den Drehbuttons von Rebirth rumzuspielen als sich mit 
> algorithmischer Komposition a la CSound und Co auf 
> Kommandozeilenbasis rumzupruegeln - weil letztgenanntes wirklich 
> kryptisch ist, man sich bei ersterem aber die qualvollen 
> Durststreckenn ersparen kann.

Erreicht man mit diesen Drehbuttons Virtuositaet im oben beschriebenen
Sinne?   
 
> > Sobald sie genau hinhoeren, ist es E.
> 
> Das ist aber nichts anderes als das, was Dieter Bohlen gesagt hat, 
> tschldigung. "Sobald man unsere Musik auf dem Klavier spielt, hoert 
> sie sich an wie Mozart." Sobald man bei Modern Talking genau 
> hinhoert, ist es E?

Fuer kurze Zeit ja, dann sucht man sich richtiges E.  Die Hoerweise fuehrt
den Weg.
 
> Bisher findet noch kein Kompatibilitaetskrieg der Plattformen statt. 
> Das koennte sich mit Audio On Demand etc. aendern. Ich sehe seitens 
> der Musikindutrie schon Bestrebungen, zu sagen: MP3 ist eine 
> Raubkopierer"plattform", MP4 / Liquid Audio / whatever der einzig 
> richtige Weg. Wollen wir hoffen, dass sie sich damit nicht 
> durchsetzen koennen.

Ja, da faellt mir ein: der Schott-Verlag hat eine Serie von CDs ueber
Komponisten und Klavierspieluebungen, die nur auf MSOS laeuft.  Ausserdem
ist die Lenkung des Kulturangebotes durch das Geld nicht erfreulich, auch
wenn meine Thesen extrem sein moegen.  Insofern gibt es vielleicht doch
einen gewissen Leidensdruck in Richtung GPL. 

--
Hartmut Pilch
Foerderverein fuer eine Freie Informationelle Infrastruktur
http://www.ffii.org