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Re: Industrie vs. Menschen





Holger Veit wrote:

> On Mon, Feb 05, 2001 at 02:14:45PM +0100, Xuan Baldauf wrote:
> >
> >
> > Holger Veit wrote:
> >
> > > [...]
> > > > Ich kann ihm nicht mal einen Vorwurf dazu machen, weil wenn er sagt:
> > > > Sorry, dazu kann ich nichts sagen, schreien auf einmal die 70% Buerger
> > > > auf, die mit Internet nichts zu tun haben (wollen) aber irgendwo
> > > > glauben, alles, was mal studiert hat ist allmaechtig und weiss alles.
> > >
> > > Genau da muss die Ausbildung der Bevoelkerung beginnen - nicht jeden
> > > Scheiss zu glauben, den irgendein Spezialist erzaehlt, sondern sich
> > > selbst ein Bild zu machen. Die Tuecke daran ist (vom Zeitaufwand dafuer
> > > abgesehen), dass eine Gesellschaft dann den Bach runtergeht - sie blockiert
> > > sich selbst in unloesbaren Entscheidungskonflikten.
> > >
> > > Holger
> > >
> >
> > Also ich möchte stark bezweifeln, dass die Gesellschaft aufgrund von Bildung den Bach
> > runtergeht. Vielmehr wird sie viel mündiger und dadurch nicht mehr so leicht lenkbar wie es
> > derzeit der Fall ist. Das Problem stellen da nicht die Entscheidungskonflikte dar, sondern
>
> Und darin genau besteht der Entscheidungskonflikt. Stelle Dir einfach eine
> basisdemokratische Entscheidung vor, wie etwa in einer Gesellschaft ueber ein
> politisches Thema, sagen wir "bringen wir alle Rinder einer Herde um, wenn
> das ein BSE-Fall auftritt", entscheiden wird. Wir haben in den letzten
> Wochen alle moeglichen Pro- und Contra-Argumente gehoert, und jetzt druecken
> wir im Internet alle auf den entsprechenden Knopf auf einer Vote-Webseite.
> Ich prophezeihe, dass das Ergebnis so ausgehen wird wie bei der Big Brother-
> Nominierung oder der ICANN-Wahl. Letztlich werden alle irgendwie damit
> unzufrieden sein. Da besteht kaum ein Unterschied zur bisherigen politischen
> Meinungsfindung.

Im Geschichts-Unterricht wurde mir einst erzählt, dass zur Zeit der Revolution 1848|1849 vor
allem unter den Demokraten erbittert um die Frage gestritten wurde, wie die künftige Verfassung
auszusehen hätte. Die Demokraten haben am stärksten gestritten, waren dann aber auch die größten
Verfechter des Ergebnisses, als die Revolution wieder rückgängig gemacht werden sollte, obwohl
keiner der Demokraten mit dem Ergebnis vollends zufrieden war.

Ich will sagen: Man muss nicht mit einem Wahlergebnis zufrieden sein, um für seine Anerkennung zu
kämpfen. Nur weil es mehr Unzufriedene durch mehr Bildung geben könnte, heißt das nicht, dass die
Anerkennung des Ergebnisses des Entscheidungsfindungsprozesses an sich mehr in Frage gestellt
wird. Ich glaube auch, dass die Anerkennung des Ergebnisses um so mehr unterstützt wird, je
klarer wird, dass es keinen besseren Entscheidungsfindungsprozess gibt, nicht je unangenehmer das
Ergebnis ist. Je besser die Bildung, desto mehr Klarheit über den Entscheidungsfindungsprozess an
sich ebenso wie über die eigene Meinung, die das Ergebnis der Entscheidung dann auch beeinflussen
kann.

>
>
> Und Muendigkeit? Was heisst dieses Schlagwort denn konkret? Dass ich zu jedem
> Furz&Feuerstein-Thema meinen (dann allerdings kompetenter als jetzt) Senf
> ablassen kann? Und was habe ich dann davon, wenn "meine Auffassung",
> die natuerlich *mein Weltbild* und *meine Wahrheit* ist, dann von den anderen
> Spezialisten mit deren Wahrheiten und Weltbildern ueberstimmt wird?
> Nun denn, so what? Neues Spiel, neues Glueck? Vielleicht waere es besser,
> politische Entscheidungen am Roulettetisch zu faellen.

Ja, Mündigkeit ist genau das, dass jeder zu jedem Furz&Feuerstein-Thema kompetenter als jetzt
seinen Senf ablassen kann. Ist das Volk kompetent, kann es den Staat besser überwachen und damit
auch gegen ihn wehren, wenn er zu weit geht. Ist das Volk nicht kompetent, so ist es abhängig von
den Bestimmungen derer, die die Gesetze machen und damit Fakten schaffen, ohne Bewerten zu
können, ob diese Fakten gut oder schlecht für sie sind. Fehlt die Bewertung der eigenen Umgebung
für sich selbst, so fehlt auch die Fähigkeit, die eigenen Interessen, die diesen Fakten
möglicherweise entgegen laufen, durchzusetzen (weil man sie nicht kennt). Daraus eröffnet sich
die Möglichkeit, dass die Menge der kompetenten die Menge der nicht kompetenten regiert. So ist
Demokratie für die nicht kompetenten, unmündigen nicht gegeben.

Der einzige qualitative Unterschied zwischen Menschen und Tieren sind unsere kognitiven
Fähigkeiten. Würden Schweine oder Rinder sich freiwillig in der Mast halten, wenn Sie wüssten,
dass das nur für die Schlachtung, höchstwahrscheinlich gegen ihre Interessen, gemacht wird?
Ungebildeten Leuten geht es auch nicht besser, hauptsächlich aber nur bei den Dingen, die über
ihre kognitiven Fähigkeiten hinaus gehen. Viele Menschen wissen, dass Tod für sie nicht
förderlich ist, bei Software-Patenten sieht das schon anders aus. Es liegt auf der Hand, dass zur
Verwirklichung der Interessen aller Menschen alle Menschen ein hohes Bildungsniveau brauchen.
(Genauer gesagt reicht ein gleich hohes Bildungsniveau eigentlich auch, aber da das Streben nach
höherer Bildung für einige nur natürlich ist, wäre dies ein aus demokratischer Sicht
ungerechtfertigter Vorteil, wenn nicht andere auch die Möglichkeit hätten, diese höhere Bildung
zu erreichen.)

Daneben wurde mir einmal erklärt, warum das Lateinische in mehrere Sprachen (Italienisch,
Spanisch, Französisch,...) zerfallen ist, und warum das für das Englische unwahrscheinlich sein
soll. Die Erklärung war, dass das Lateinische viel zu wenig gesprochen wurde, der Austausch
zwischen den Bevölkerungen des Lateinischen Sprachraumes war viel zu gering. Neue sprachliche
Tendenzen wanderten viel zu langsam oder garnicht vom einen zum anderen Ende des Sprachraumes,
sodass die neuen Tendenzen nicht von der Allgemeinheit, sondern nur von lokalen Gruppen
aufgenommen wurde. Das führte zur Spaltung.

Beim Englischen soll das nicht der Fall sein, weil heute im Vergleich zu früher der Austausch
zwischen verschiedenen Teil-Gruppen der Sprache ungemein größer ist, die Information braucht
nicht mehr Monate, sondern nur noch Sekunden, um von A nach B zu gelangen. So werden neue
Tendenzen von der Allgemeinheit aufgesogen und nicht nur von einer lokalen Gruppe.

So sehe ich das nicht nur bei Sprache, sondern generell bei Informationen, worunter auch
politische Ansichten gehören. Je mehr sich die Bevölkerung mit Politik befasst, desto für
wahrscheinlicher halte ich es, dass sich Ansichten über ein bestimmtes Thema konsolidieren auf
wenige, verschiedene Grundansichten über das Thema.

Will sagen: Bei genügend großer Kommunikation steigt die Breite der Ansichten zu einem Thema
nicht mit der Anzahl der Leute, die diese Ansichten haben.

>
>
> Politik funktioniert dann und nur dann, wenn gerade *nicht* jeder jedes Thema
> fuer sich als relevant adoptiert. Ich weiss nicht, ob Wau noch vom GBL
> traeumt

Was ist GBL?

> - dieses Modell von Basisdemokratie geht dann in die Hose, wenn die
> Gruppe eine bestimmte Groesse (und folglich Pluralitaet) uebersteigt und
> noch wesentlicher dabei, wenn eine Entscheidung getroffen werden muss.
>
> > wahrscheinlich die Konflikte zwischen den Machthabern (Mehr die "Experten" und Lobbyisten,
> > weniger die Politiker selber), die der Bevölkerung was vorsetzen, und der Bevölkerung, die
> > es so nicht akzeptieren wird und gute Gründe dafür hat. Nach einer Eingewöhnungszeit wird
> > auch die Regierung der emanzipierten Bevölkerung mehr Gehör verleihen, und damit eine
> > qualitativ hochwertigere|direktere Demokratie bilden.
>
> Lies' so die ueblichen Staatsutopien der frueheren Jahrhunderte.
>
> > Neben freien, gleichem, geheimen und gut gewichtetem Wahlrecht der Interessenvertreter ist
> > Bildung elementar für die Demokratie. Denn nur mit Bildung kann herausgefunden werden, was
> > die eigenen, auf staatlicher Ebene zu verwirklichenden Interessen sind. Nicht rein zufällig
> > sind Studenten-Bewegungen bei Revolutionen generell in hohem Maße beteiligt.
>
> Der uebliche Mythos des Bildungsbuergertums (interessanterweise auch der
> revolutionaeren Studenten).

Was ist Deiner Meinung nach denn die Wahrheit und nicht Mythos?

>
>
> Holger
>
> --
> signature fault - code dumbed

Xuân.