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Re: BGH-Entscheidung: T-Online darf Verbindungsdaten nicht mehr speichern



Hallo Florian,

Florian Weimer schrieb/wrote (15.11.2006 02:05):

> * Holger Voss:
> 
>> Ein Staat kann nur dann demokratisch sein, wenn er für die Menschen
>> durchschaubar/transparent ist.
> 
> Die demokratischen Institutionen werden aber von Menschen getragen,
> mit ihren ganz konkreten Bedürfnissen.
> Mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ist z.B. nicht
> vereinbar, daß das Abstimmungsverhalten eines Bundestagsabgeordneten
> veröffentlicht wird (sofern die Abstimmungen nicht geheim erfolgen),
> oder auch solch profane Dinge wie die bloße Anwesenheit bei Debatten.

OK. Dass das informationelle Selbstbestimmungsrecht gerade dort
eingeschränkt werden muss, wo einzelne Menschen besondere staatliche
Macht haben (als Bundestagsabgeordnete, PolizistInnen, RichterInnen
usw.), sehe ich auch so.

Ich bin z. B. unbedingt der Meinung, dass PolizistInnen an ihren
Uniformen stets eine gut sichtbare Kennung (das muss nicht ihr Name
sein, dass kann auch eine Nummer sein) tragen müssten, anhand derer sie
identifiziert werden können.


>> Umgekehrt aber kann ein Staat niemals demokratisch sein, wenn die
>> Menschen, die in ihm leben, für den Staat durchschaubar/transparent
>> sind. - Ein solches System müsste als Überwachungsstaat oder
>> totalitärer Staat bezeichnet werden.
> 
> Nein, wieso?

Das alte Sprichwort: "Wissen ist Macht."

Wenn der Staat zu viel Wissen und (auch dadurch) zu viel Macht über die
Menschen hat, dann liegt die Macht im Staate nicht mehr bei der
Bevölkerung (griechisch démos), sondern bei dem System Staat.


> Wir bewegen uns seit den Sechzigern langsam auf eine offene
> Gesellschaft zu, in der der die informationelle Selbstbestimmung
> bedeutungslos wird.

Das kann ich nicht nachvollziehen, im Gegenteil.

Gerade seit dem Erstarken außerparlamentarischer Bewegungen nach 1967
wurde offensichtlich, wie nötig es ist, dass der Staat nicht alles weiß
und nicht alles kontrolliert.

Das Gefühl dafür, dass informationelle Selbstbestimmung enorm wichtig
ist, wurde bis Anfang der 1990er Jahre in der BRD auch massiv durch den
Vergleich mit der DDR gestärkt: Der Verlust an informationeller
Selbstbestimmung durch den massiv kontrollierenden und überwachenden
Staat DDR war etwas Negatives, von dem sich die BRD als System deutlich
abgrenzen wollte und das für die meisten Menschen in der BRD eine
Horrorvorstellung war.

Die Proteste gegen die Volkszählung 1987 waren ein Massenprotest, der
von einem großen Teil der Bevölkerung getragen und für den eine
überwiegende Mehrheit zumindest Verständnis hatte.


> Viele Dinge (z.B. sexuelle Neigungen) haben heute
> längst nicht mehr den Schutzbedarf von früher, weil es schlicht
> niemanden *interessiert*;

Die Gesellschaft in der BRD ist in den vergangenen Jahrzehnten
toleranter geworden, da gebe ich Dir Recht.

Aber das heißt nicht, daß informationelle Selbstbestimmung weniger
wichtig geworden ist. Im Gegenteil konnte die tolerantere Gesellschaft
nur entstehen, weil allgemein das Bewusstsein verbreitet war (und
überwiegend auch heute noch verbreitet ist), dass den Staat persönliche
Einzelheiten über die Menschen grundsätzlich erstmal nichts angehen.


> es ist keine sozial relevante Information
> mehr. Und die, die es interessiert (z.B. die eigene Ehefrau), haben
> auch einen Anspruch darauf, diese Dinge zu erfahren.

???

Du meinst, Ehefrauen sollten einen Anspruch darauf haben, über die
sexuellen Vorlieben ihres Ehemannes informiert zu werden?

Diese Vorstellung finde ich absurd. Ob Ehe oder andere Beziehung: Sich
und die jeweiligen Vorlieben kennenzulernen, ist Sache der PartnerInnen
und keineswegs Sache des Staates oder der Öffentlichkeit.


> Das, was vom
> Datenschutz danach übrig bleibt, ist Minderheitenschutz --

Minderheitenschutz ist ein wichtiger Grund für die Notwendigkeit von
Datenschutz. Ja. - Wobei Minderheitenschutz im Endeffekt
Mehrheitenschutz ist: Fast jedeR gehört in irgendeiner Beziehung einer
Minderheit an.


> Natürlich sind die individuellen Freiheitsrechte für eine Demokratie
> unabdingbar. Aber es ist utopisch, diese Rechte dadurch stärken zu
> wollen, daß "der Staat" dem Bürger einen Geheimbereich zugesteht.

Diese Aussage finde ich extrem gefährlich. Sie legitimiert eine
uneingeschränkte Kontrolle des Staates und damit eine praktisch kaum
eingeschränkte Macht des Systems "Staat" und gleichzeitig einen massiven
Machtverlust für "die Menschen".

M. E. redest Du einer Diktatur das Wort.

(Und ob sich diese Diktatur demokratisch kleidet, wird dabei
unerheblich. Das hat die DDR auch getan.)


> Das verkennt, daß die meisten Verletzungen entweder aus knallharten
> wirtschaftlichen Interessen (und damit meine ich nicht Direktmarketing)
> erfolgen, oder durch das persönliche Umfeld des Betroffenen. Gegen
> beides, Geheimbereich hin oder her, hat der einzelne keine Handhabe.

Auch das sehe ich anders.

1. Aus welchem Interesse (z. B. wirtschaftliches Interesse) die Daten
erhoben werden, ist zweitrangig. Vorrangig ist, für welche Interessen
die Daten verwendet werden können.

2. Wenn der Staat "seinen" Menschen keinen Geheimbereich zubilligt, hat
das zur Folge, dass auch das persönliche Umfeld anderen Menschen keinen
Geheimbereich zubilligt. Wenn Bespitzelung, Überwachung, Denunziation
usw. staatlich geduldet oder gar unterstützt werden, dann werden sich
weitaus mehr Menschen finden, die sich an dieser Bespitzelung
beteiligen, als wenn solche Bespitzelung vom Staat klar abgelehnt bzw.
unter Strafe gestellt wird.

3. Wenn es Datenschutzrechte gibt, die sich an informationeller
Selbstbestimmung orientieren, dann hat die Einzelne sehr wohl eine
Handhabe gegen Eingriffe in ihren Geheimbereich. Aktuell ist das vor
allem die Möglichkeit, auf Unterlassung zu klagen bzw. die
Datenschutzbeauftragten einzuschalten. Mehr Möglichkeiten gäbe es, wenn
Datenschutzvergehen stärker als bisher unter Strafe gestellt würden.

Gruß


Holger

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