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Re: Experiment zu Machtstrukturen und Zensur im Internet



On Fri, Dec 15, 2000 at 05:06:01AM +0000, Tim Landscheidt wrote:
> "Neko (Simone Demmel)" schrieb:
> 
> > [...]
> > Kommentar dazu von mir: Es gibt immer noch erschreckend viele Leute, die
> > schon verhaeltnismaessig lange (>1Jahr) regelmaessige Internet- und
> > Webuser sind, die dieses Knoepfchen noch nicht gefunden haben. (Ich
> > merke das immer, wenn sie Baukloetzchen im HTML-Kurs staunen, wie
> > einfach es doch ist, mal nachzusehen, wie die anderen das gemacht haben)
> > [...]
> 
> Und welchen Zweck sollte das haben? Als Autofahrer interes-
> siert mich der Apparat unter der Motorhaube schließlich auch
> nicht, es reicht, wenn die Kiste fährt.

Dummerweise liegt ein Auto, was allein die Bedienung angeht, mindestens eine
Groessenordnungen sogar nur unter einer profanen Textverarbeitungssoftware.

Aber selbst beim Auto gebraucht man staendig (oder auch nicht) Kontextwissen,
welches wir uns selber durch langjaehrige Gewoehnung angeeignet haben und
ueberhaupt nicht mehr als Wissen wahrnehmen (vgl. heutige persoenliche
Fahrtechnik und erste Fahrstunde in der Fahrschule). Wir *wissen*, wie wir
mit der Kupplung umgehen muessen, dass der Motor nicht abgewuergt wird, und
dass es fahrphysikalische Besonderheiten gibt, haben wir (hoffentlich ohne
grossen Schaden) spaetestens dann gelernt, wenn es uns mit unserem fahrbaren
Untersatz mal auf eine vereiste Piste verschlagen hat. Wenn wir schon mal
unterschiedlich schwere Autos gefahren sind, entwickeln wir ein "Gefuehl"
dafuer, wie sich ein dicker Daimler im Vergleich zum alten Kaefer verhaelt.
Aber das machen wir uns erst dann bewusst, wenn man uns genau mit diesem
Sachverhalt konfrontiert. Der Einwand "interessiert mich nicht, Hauptsache,
die Gurke loeppt" geht daher voll daneben; er taugt nichts als Vergleich mit
dem Computer.

Was dem neuen Computerbenutzer fehlt (und was die alten Hasen ueber die
Jahre und Jahrzehnte ebenso wie bei Auto die Fahrpraxis) entwickelt haben,
sind nicht unbedingt Tricks oder Abkuerzungen (um etwa mit einem Textprogramm
noch schneller den Text bearbeiten zu koennen - dies entspricht bestenfalls 
der gegenueber dem Fahranfaenger verbesserten Feinmotorik im Umgang mit
Gas und Bremse), sondern Wissen ueber Zusammenhaenge im gesamten Umfeld
von Computer und Vernetzung. Der Neuling ist, um es boese und zynisch
auszudruecken, leider noch nicht haeufig genug selbst gegen virtuelle
Internetbaeume gebrettert, um etwa zu einer Erkenntnis zu gelangen, 
dass man nicht, wie Lutz treffend bemerkt, auf alles klickt, was nicht
schnell genug vom Desktop verschwindet. Das liegt aber auch daran, dass
sich resultierende Katastrophen vorwiegend in der virtuellen Welt abspielen -
ein abgestuerzter oder virenverseuchter Rechner wird als Vermoegensschaden
(und Zeitverlust) nicht so wahrgenommen wie das Auto, das dann im Graben
liegt - sprich: es ist kein Lerneffekt damit verbunden, wenn man etwa im
Usenet wegen TOFU-HTML-Kammquotes durch OjE angemotzt wird: das ist nicht die
eigene Schuld, sondern laesst sich bequem auf den Bloedmann abwaelzen, der
da rummotzt: bei einem selbst klappt es ja. 

Der Lerneffekt eines 'rm -rf * .bak' (fuer die nicht Unixler: da ist ein
Leerzeichen bei "*.bak" zuviel, mit der Folge, dass alle Dateien, nicht nur
die Backupdateien, und dazu noch alle Unterdirectories, ohne Nachfrage
geloescht werden) ist bei einer all-inclusive-Loesung, die dem User
jegliches Denken aberzieht, nicht mehr gegeben.

Die Beobachtung, dass Benutzer dann auch auf schlimmste Textmanipulationen
bei den angeklickten Seiten nicht mehr achten, ist da nicht mehr verwunderlich.
Ich wollte an dieser Stelle noch hinzufuegen, dass der erfahrene Autofahrer
auch dank seiner Praxis nur mehr die wesentlichen Dinge fuer die Fahrt
ausfiltert, so dass ihm auch wirkliche Anachronismen in der Umgebung entfallen
koennen, aber diese Analogie trifft die Manipulationssituation in diesem Thread
nur bedingt. Wohl ist aus der Psychologie bekannt, dass der menschliche
Geist staendig Fehler in der Wahrnehmung korrigiert - der objektiv mit 
den Augen gesehene Text "Gerhard Schroeder wird Steuerhinterziehung vorge-
worfen" kommt u.U. in der geistigen Wahrnehmung korrigiert als "Helmut Kohl
..." an - ein Grund fuer die Unzuverlaessigkeit von Zeugenaussagen.
Dies klappt aber nur bedingt - das Muster wird falsch gespeichert und
irgendwann faellt eine solche permanente falsch-Berieselung auf (ganz
im Gegensatz zum in der Werbepsychologie gehegten Mythos, dass man eine
Reklame nur penetrant genug, oder gar sublim, wiederholen muesse, dass
sich das zugehoerige Produkt dann besonders verkaufe) - insbesondere dann,
wenn noch andere Vergleichsquellen zur Verfuegung stehen.

Das Experiment hat aber gerade nicht gezeigt, ob die Manipulation von den
Testpersonen tatsaechlich waehrend des Versuchs entdeckt wurde. Darueber,
dass man manipulieren kann, besteht kein Zweifel (insofern war das
Experiment lausig unwissenschaftlich angelegt - erstaunlich, mit
welchem Unfug heutzutage Diplome verschenkt werden) - es hat lediglich
ein Desinteresse der User an praesentierter Information, und weiterhin
ein Abstumpfen im Hinblick auf zwischengeschaltete Nagware-Seiten aufgezeigt.
Das bedeutet nun aber nicht, dass die Benutzer zwischen Junk und wertvoller
Information unterscheiden koennen - dafuer existiert ebenfalls kein 
Anhaltspunkt, so dass die These des unkritischen Rumklickens, solange bis
man an irgendwas rankommt, was halbwegs dem entspricht, was man gerade
*haben will* (schonmal Kiddies in Kaufhaeusern an Demo-Gameboys und
-Playstations gesehen? Es wird solange auf alle Tasten gehauen, bis was
passiert) weiter Bestand hat. Kein Lerneffekt: entspricht etwa der Analogie,
den Leuten Gummiautos zu geben, dann wird auf den Strassen nur noch Billard
gefahren.

Holger

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